Ich hatte frei und Wien ist schön



„Was hast du in Wien gemacht?“, werde ich gefragt, wenn ich davon erzähle. „Lange Geschichte“, denke ich. Und sage: „Um einen alten Bekannten zu besuchen.“ Der eigentlich keine Zeit für mich hat. Solche Leute sollten an aufregenden Orten wohnen! Also, warum war ich in Wien? Es ist eine shöne Stadt und ich hatte das Wochenende frei.

Wien. Die Stadt, in deren U-Bahnen angesagt wird: „Bitte seien Sie achtsam. Andere brauchen Ihren Sitzplatz vielleicht mehr“ und in der man in manchen Restaurants nicht als Kellner angestellt wird, wenn man zu den Gästen freundlich ist. Und ich liebe ja den Wiener Akzent!




Es ist mein dritter Besuch, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten habe ich eigentlich schon abgearbeitet. Daher lasse ich mich treiben, biege ab, wo es schön aussieht. Es ist Samstagmorgen, außer Joggern und Hundebesitzern ist kaum jemand unterwegs. Hinter einem hübschen kleinen Park taucht das heeresgeschichtliche Museum auf. Ich wusste nicht, dass es das gibt, und ich gehe auch nicht hinein, aber mich fasziniert die schiere Größe des Gebäudes. Es ist eine richtige Festung, an der ich ziemlich lange entlanggehe, bevor ich wieder in der Nähe des Hauptbahnhofs herauskomme. Der Schnee ist weg, so langsam tauchen mehr Menschen auf den Straßen auf, aber wo ist die Weihnachtsbeleuchtung?

Auch auf dem Naschmarkt kaufen die Leute ganz normal ein, nichts vom vorweihnachtlichen Stress und der panischen Suche nach Geschenken zu spüren.
Die Innenstadt ist dann doch wunderbar beleuchtet, und ich kann mit jeweils neuem Punsch von einem Straßenmusiker zum nächsten schlendern, vom Weihnachtsmarkt am Spittelberg zum Christkindlmarkt vor dem Rathaus, über den Heldenplatz zum Weihnachtsmarkt um den Stephansdom und Am Graben hinunter.



Die Linie U6 wurde vom Postillion schon als „längste Geisterbahn Europas“ bezeichnet, da sie samstags- und sonntagmorgens die Partyleichen nach Hause bringt. Auch davon bleibe ich glücklicherweise verschont. Auf einem Teil der Strecke ist der U-Bahn-Tunnel nach oben hin offen und man sieht an den Seiten die alten Teile der Stadtmauer. An manchen Stellen verwandelt sich die U6 auch in eine Hochbahn, zum Beispiel, um erhaltene Teile der Stadtmauer zu überqueren.
Meine Gastgeberin wohnt in der Nähe der U6, arbeitet in der Stadthalle – und überschätzt meine Abenteuerlust. Wir schaffen es zwar, mich abends in die Halle zu schmuggeln, ohne Ticket ein Konzert zu besuchen, traue ich mich dann aber doch nicht. Dafür, dass ich hier mit ausgeleierten, bunten Klamotten und der auffälligsten Mütze der Stadt herumlaufe, bin ich aber ziemlich weit gekommen! Am nächsten Tag versucht sie, mich in den Tiergarten zu schleusen, aber zum Glück kann ich sie davon überzeugen, dass wir nicht über den Zaun klettern müssen, wenn das Hintertor für Lieferanten geschlossen ist. Ich kann schließlich nochmal nach Wien kommen. Und die Elefanten habe ich ja auch beim letzten Mal schon besucht. Die Sonne kommt heraus, das Schloss Schönbrunn wird vor dem dunklen Himmel angestrahlt wie die Kulisse eines Horrorfilms. Und die Sonne an diesem dritten Adventswochenende treibt auch Menschenmassen nach draußen, als wäre die Gloriette ein Pilgerberg und heute ein bedeutendes Opferfest. Na gut, die Aussicht ist auch gigantisch. Auch der Park um das Schloss herum ist gut besucht, obwohl außer dem Rasen nichts mehr grün ist. Kahle, dünne Bäume, der dunkle Himmel hinter dem Schloss, krächzende Raben – die unheimliche Stimmung wäre perfekt, würde nicht der Duft von Glühwein über allem schweben. Ach ja, und tausende von Touristen machen das auch irgendwie zunichte. Ich höre mehr Italienisch als jede andere Sprache, und sind da überhaupt Österreicher dabei?




„Das ist der Deal“, erklärt mein Host, „im Sommer fahren wir nach Italien, im Winter kommen die Italiener zu uns.“ Wir entfliehen den Massen, indem wir hinter der Gloriette die weniger vollen Wege wählen. Vorbei kommen wir an einem großen Gehege mit ausquartierten Emus, die im braunen Laub vortrefflich getarnt sind, und dem Alterswohnsitz der Giraffen, der mit dem hohen Haus mit den kleinen Fenstern und dem Stacheldrahtzaun fast aussieht wie ein Gefängnis. Wir sind immer noch auf dem kleinen Berg, aber hier ist tatsächlich nur noch eine Handvoll Wiener unterwegs. Es kommt einem vor, als hätte man die Stadt auf einem Schleichweg verlassen und sei nun auf dem Land. Nur die Aussicht über die Hauptstadt bleibt. Wir schlendern über den Friedhof Hietzing, auf dem unter anderem Gustav Klimt und Franz Grillparzer beerdigt sind. Vom Park aus hatten uns die großen Familiengruften und kunstvollen Grabsteine fasziniert (aber wir haben dann tatsächlich einen Eingang gesucht und sind nicht über die Mauer geklettert…) und erst, als wir den Friedhof verlassen, fällt uns ein, dass wir uns ja in einem der reichsten Bezirke Wiens befinden. Es bleibt noch Zeit für einen Punsch vor dem Schloss, während es wieder anfängt zu schneien,, bevor ich meinen Zug erreichen muss.
„Dass man als Kaiser so einen großen Garten zur Verfügung hat!“, bemerkt meine Begleiterin.
„Naja, schließlich ist Sissi so viel spazieren gegangen, dass ihre Bediensteten nicht mehr hinterherkamen.“
„Joggen war damals halt noch nicht erfunden. Wusstest du, dass Sissi ein Tattoo hatte?“
Wusste ich nicht.
„Einen Anker. Auf der Schulter.“
Warum guckt man sich eigentlich an Weihnachten immer die Sissi-Filme an, frage ich mich. Und es ist keine deutsche Tradition, die Österreicher machen es auch. Vielleicht sollte ich das dieses Jahr auch mal tun.


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