Zugbekanntschaften
Circa fünf Minuten
Verspätung. Das fällt mir zuerst auf, als ich den Bahnsteig betrete. Nichts Besonderes
also. Gleich danach entdecke ich meine Kommilitonin Marisa. Seit dem ersten
Semester weiß ich, dass wir die gleiche Strecke in die Heimat haben, aber wir
sind uns bisher nie am Bahnhof begegnet. „Wir hätten auch den ICE eine Stunde
eher geschafft“, sagt sie, und diesen Satz wiederholen wir heute noch oft. Aber
wenn man so einen Zug bucht, geht man doch lieber davon aus, dass man nicht
ganz pünktlich von der Uni wegkommt… Wir sichern uns Plätze an einem Tisch
neben zwei jungen Herren. Die sind schon in Bremen gestartet und müssten in
zwei Stunden in München sein – nicht ganz realistisch bei einer fünfstündigen
Fahrt.
„Unser Flieger hätte ja
um zwei in München landen sollen, aber der Bremer Flughafen ist gesperrt, weil
mal wieder ein Blindgänger gefunden wurde.“ Dank der Bombenentschärfung werden
sie mindestens zwei Stunden zu spät zur Arbeit kommen und versuchen, alles per
Telefon zu klären, das man auf diese Art in die Wege leiten kann. Da sitzen wir
also, vier völlig verschiedene Leute in den Zwanzigern, zwei aus dem Norden,
die in den Süden zur Arbeit müssen, zwei aus Bayern, die das lange Wochenende
für Heimaturlaub nutzen, und beschweren uns, dass die Bahn ja noch nie
pünktlich war. Als gegenüber eine Mutter mit drei kleinen Kindern Platz nimmt,
wechseln wir Blicke – „na toll, auch das noch“.
Die Kinder sind
allerdings weniger nervig als angenommen und ich bin froh, mal jemanden im Zug
zu haben, der sich gerne mit mir unterhält.
Es folgt: Gespräche über die
Messe in München und Geschäftsreisen, das Tiermedizinstudium, eine
Signalstörung zwischen Kassel und Fulda. Wir werden umgeleitet, vierzig Minuten
Verspätung.
Mich stört das nicht, ich
habe genug zu essen dabei. Mein Gegenüber gibt die schlechten Nachrichten per
Telefon weiter. Die Jungs packen ihre Tablets aus und gehen mit der Situation
ganz unterschiedlich um: während der eine sich Kopfhörer in die Ohren steckt
und jammert, nimmt es der andere mit Humor. Die Zugfahrt wurde von der
Fluggesellschaft bezahlt, der Flug von der Firma, machen kann man jetzt ohnehin
nichts. Ich beobachte, wie der Zugbegleiter einen Anruf erhält. „Scheiße“,
hören wir ihn sagen. Wieder wechseln wir vielsagende Blicke.
„Sehr geehrte Fahrgäste,
wir haben schlechte Nachrichten, vor uns sind noch ein weiterer ICE und zwei
Güterzüge, wir erreichen den nächsten Halt mit voraussichtlich siebzig Minuten
Verspätung.“
Ein gequältes Stöhnen von
dem einen, Achselzucken von dem anderen. Er ruft seinen Kollegen vor Ort an,
Marisa die Freunde, mit denen sie nachher verabredet ist, ich packe mein Buch
aus.
Formulare zu den Fahrgastrechten
werden verteilt, zwei Zugbegleiter weisen uns darauf hin, dass es im Bordbistro
Freigetränke gibt. Na dann, kann man sich eigentlich nicht beschweren.
Während wir an
kostenlosem Tee und Cola schlürfen, erzählt uns der junge Mann von seinem
Bekannten, der eine Ausbildung bei der Bahn macht. Lokführer haben wohl
ziemlich viele Rechte, dürfen einfach gehen, wenn ihre Arbeitszeit vorbei ist,
egal, ob sie den Zielbahnhof schon erreicht haben oder nicht. Er füllt seinen
Zettel mit den Fahrgastrechten aus. „Ich gebe hier meine Bankverbindung an!
Dann habe ich sogar noch was verdient! Und das hier ist ja meine Arbeitszeit,
also werde ich auch fürs Zugfahren bezahlt. Heute Nacht dann im Hotel,
Verpflegungspauschale… ist doch alles nicht schlecht!“
In Nürnberg geben wir
richtig Gas, sodass ich in München sogar noch meinen planmäßigen Anschlusszug
erreiche.
Auf dem Weg dahin finde
ich mich neben einem uniformierten Offizier wieder. „Hallo Ina!“
Huch, den kenne ich doch!
Mit dem bin ich zur Schule gegangen!
Seit dreieinhalb Jahren
fahre ich diese Strecke. Nie begegne ich Leuten, die ich kenne. Und heute
gleich zweimal?
Nicht nur das.
Auf der Rückfahrt vier
Tage später stupst mich schon am Dorfbahnhof jemand an. „Ina? Wir haben uns ja
ewig nicht gesehen!“ Noch ein ehemaliger Mitschüler! Er hat sich beruflich
schnell hochgearbeitet, hat viel gesehen und studiert noch nebenher. „Manchmal
soll ich einen Text für die Uni schreiben und muss mich fragen: habe ich diese
Fakten aus dem Job oder ist das die offizielle Version? Es gibt einfach so
viel, von dem die Medien nicht berichten und das wir unter Verschluss halten…“,
erzählt er mir.
Wir reden über Gewalt und
Politik, über Flüchtlinge und Zukunftspläne, steigen aus und reden weiter, bis
er zu seiner Vorlesung rennen muss und ich zu meinem ICE. Schon am Bahnsteig
lächelt mir ein Mädchen zu, das mir sofort sympathisch ist. Ungeschminkt, mit
Rucksack, einem Jutebeutel vom Katholikentag. Sie setzt sich neben mich. Ob sie
gerade Abi gemacht hätte, frage ich. Nein, ganz so weit ist sie noch nicht.
Medizin studieren würde sie gerne, aber vorher ins Ausland. Ich bin begeistert
von den Plänen, die sie schmiedet, und fühle mich alt und weise, als sie mich
um Rat und nach Tipps fragt.
Von meiner veganen
Ernährungsweise und Tierschutz, den Lehren aus Michael Endes „Momo“ für die
heutige Gesellschaft und unseren Umgang mit sozialen Medien gehen wir über zum
Zusammenleben von Mensch und Tier, Religion und woher wir unsere Moral und
Werte beziehen. Es wird so philosophisch, dass mir bald der Kopf raucht, wir
diskutieren kurzzeitig lautstark darüber, woher der Mensch das Recht nimmt,
sich über Tiere zu stellen und über ihr Schicksal zu bestimmen – und als ich in
Hannover aussteige, tauschen wir Kontaktdaten aus. Es ist die längste,
spannendste und inspirierendste Zugkonversation, die ich bisher hatte. Ich bin
froh, diese Bekanntschaft gemacht zu haben.
Warum kann nicht jede
Bahnfahrt so sein?
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