Forschung - Life in Estonia, Teil 8



Einer seufzt, eine stöhnt, die dritte Stimme flucht. Die Geräuschkulisse kommt aus unserem Büro und meist folgt der Kommentar meines Chefs: „Der Soundtrack der Wissenschaft“. Hier sitzen wir, jeder vor dem eigenen Computer, und arbeiten hart. Nachdenken. Probieren. Versagen. Nochmal versuchen.

Wenn ich durch meine sozialen Medien scrolle, tauchen immer wieder Sprüche über das Doktorandenleben auf. Einer meiner Lieblinge: „Ich wollte keinen langweiligen acht-Stunden-Job, also habe ich meine Doktorarbeit angefangen und jetzt arbeite ich 24/7.“ Und da ist was dran. Als Doktorand muss man wie jeder Andere versuchen, eine Work-Life-Balance zu erschaffen. Heutzutage sind die Kurse online, während man Literaturrecherche betreibt oder Daten statistisch auswertet, kann man zu Hause oder überall sonst auf der Welt sitzen, und meist ist man zeitlich flexibel. Und während es ja ziemlich leicht ist, eine Morgenroutine aufzubauen und jeden Tag zur selben Zeit anzufangen – wann hört man abends auf? Fertig ist man schließlich nie. Manchmal klappe ich schon nachmittags um vier den Laptop zu, weil ich mich einfach nicht mehr konzentrieren kann, an anderen muss mich der Nachtwächter rauswerfen. Freitags erinnert mich mein Betreuer immer wieder, nicht zu lang und zu viel zu arbeiten, mir das Wochenende frei zu nehmen. Nur weil er abends so lange im Büro säße, müsse ich das nicht auch tun. Wo er Recht hat, hat er Recht, ich fange schließlich meist drei Stunden vor ihm an zu arbeiten.

Das Problem mit der Forschung ist: fast immer hängt alles von einem einzigen Faktor ab: dem eigenen Fortschritt, dem eigenen Arbeitseifer. Je schneller ich alles gelesen habe, was bereits zu dem Thema veröffentlicht wurde, desto schneller kann ich die Lücken finden und füllen. Je schneller ich mit meinen Analysen durch bin, desto eher kann ich anfangen, Sachen zu Papier zu bringen. Und je eher das Paper geschrieben ist, desto schneller kann es überprüft und veröffentlich werden... und so weiter. Das bedeutet: Jedes Mal, wenn eine Doktorandin einen Tag frei nimmt, sich eine Pause gönnt oder abends eher Schluss macht, hat sie ein schlechtes Gewissen. Jede Minute, die ich nicht arbeite, schimpfe ich mich dafür. An jedem Tag, an dem ich nicht vorankomme, zweifle ich daran, dass ich das Projekt in den vier Jahren stemmen werde, für die es angesetzt ist.

Mein ganz klarer Plan
 Gleichzeitig weiß ich ja, dass mein Hirn nur gut arbeiten kann, wenn es ausgeschlafen ist und auch mal Abwechslung bekommt. Und das Hirn ist mein wertvollstes Werkzeug auf dieser Reise (naja,und das Forum meines Statistikprogramms, sprich die Gehirne anderer Leute).

Es gibt Samstage, an denen ich ausschlafe, mir die Zeit nehme, etwas Gesundes zu kochen und Freunde zu treffen und mich danach super fühle. Es gibt Sonntage, an denen ich nur eine Stunde lang wissenschaftliche Artikel lese oder Variablen im Statistikprogramm erstelle und mich dafür fertig mache, dass ich so faul war. Und es gibt die allerbesten Tage: An denen ich auf ein Problem stoße, es löse, und nach Hause gehe, immer noch aufgeregt, weil ich etwas Spannendes gefunden und viel gelernt habe. Ich esse zu Abend, dann rolle ich die Yogamatte aus, um mich zu dehnen – und habe plötzlich eine Idee. Also sitze ich auf dem Boden, halb in der Taubenposition, ziehe meinen Laptop heran und öffne das Statistikprogramm.

Im Labor arbeiten wir meist am Wochenende, weil wir dann ungestört alle Geräte benutzen, den gesamten Platz beanspruchen und die Musik aufdrehen können. Manchmal nehme ich mir dafür dann einen Wochentag frei, meistens aber zieht mich mein schlechtes Gewissen doch ins Büro oder zumindest an den Schreibtisch. Laborarbeit ist ja auch viel entspannter und macht mehr Spaß als der Kram am Computer, es zählt also kaum.

Es ist schwer, die Arbeit ganz aus dem Kopf zu bekommen. Machmal ist es allerdings auch schwer, überhaupt aufzustehen und sich zur Arbeit aufzuraffen. Es ist wie eine Schaukel – den einen Tag ist es spannend und macht wahnsinnig Spaß, am nächsten Tag ist es frustrierend und man hat das Gefühl, dass das alles zu nichts führt. Man forscht monatelang, um einen kleinen Absatz schreiben zu können. Man liest stundenlang Paper, nur für eine kleine Quellenangabe hinter einem einzigen Satz in der Einleitung. Jedes Wort, das man schreibt, wird vor dem Druck dreimal umgedreht.

Also soweit zum Leben eines Wissenschaftlers – vielleicht wolltet ihr ja wissen, was ich eigentlich mache. Als PhD Studentin habe ich einige Kurse, die ca. 6-7 Stunden pro Woche in Anspruch nehmen, plus Hausaufgaben.

Lehrgebäude geschlossen


Inzwischen habe ich mich an den estnischen Tagesablauf angepasst und komme gegen neun an der Uni an. Da aufgrund der Kontaktbeschränkungen das Gebäude momentan für Studierende und Besucher geschlossen ist, betrete ich ein Geisterhaus – auch die meisten Mitarbeiter sind im Homeoffice. Ich muss sogar einen Code eingeben, um die Tür zu öffnen. Diejenigen, die noch ins Büro kommen, erscheinen meist erst nach neun und müssen natürlich Masken tragen.

Für mein Statistikprogramm STATA brauche ich mindestens zwei Fenster: Auf dem großen Bildschirm das, in dem mir die Ergebnisse angezeigt werden, auf dem kleinen Bildschirm schreibe ich den Code, um Variablen zu erstellen oder Modelle berechnen zu lassen, und zwischendurch werfe ich einen Blick in die Tabelle mit den Daten oder ein Diagramm taucht auf.

Heute untersuche ich den Zusammenhang zwischen dem Protein Haptoglobin, das in den ersten drei Lebenswochen von Kälbern gemessen wurde und deren Gewichtsentwicklung bis zum Alter von etwa 15 Monaten. In meinem Datensatz steht alles drin – Geburtsdatum und –zeit der Kälber (144 an der Zahl), die Haptoglobin-Konzentration in Woche eins, zwei und drei. Da nicht alle Kälber genau gleich alt waren bei der Blutentnahme, gibt es auch eine Variable die mir sagt „dieses Kalb war bei der Woche 2 Beprobung 12 Tage alt“. Auch das Gewicht im Alter von 15 Monaten mit genauem Datum, an dem die Tiere gewogen wurden, ob es ein Erstgeborenes ist, ob es Durchfall hatte, als die Blutprobe entnommen wurde, und ob es dagegen nach Protokoll behandelt wurde, steht im Datensatz. Tatsächlich enthält der noch viele, viele weitere Informationen, doch viele davon brauche ich für meine Analysen gar nicht.

Zuerst schreibe ich eine Zeile Code, die dem Programm sagt: berechne für alle Kälber, wie viel sie vom Tag der Geburt bis zum Tag des Wiegens mit 15 Monaten durchschnittlich am Tag zugenommen haben. Dann überlege ich mir, was alles in mein statistisches Modell muss: Die Tageszunahme (average daily weight gain) ist meine sogenannte outcome Variable. Was ich wissen will, ist, ob die Haptoglobinkonzentration eine Vorhersage dafür leisten kann (predictor-Variable). Andere Faktoren, die die Beziehung zwischen Haptoglobin (Hp) und Gewichtszunahme beeinflussen könnten, sind das Gewicht bei der Geburt, das genaue Alter beim Wiegen sowie bei der Blutentnahme (also das genaue Alter, in dem das Hp gemessen wurde), ob das Kalb die Durchfallbehandlung bekommen hat und wenn ja, ob nach Protokoll oder nicht, und eventuell auch einige Faktoren, die die Mutter betreffen. Da ich drei Hp-Werte pro Kalb habe, das aber mein Ergebnis verfälschen würde, muss ich dem Programm auch noch sagen, dass es im ersten Modell nur den Wert der ersten Woche, im zweiten den der zweiten Woche und im dritten Modell den Wert der dritten Woche verwenden soll.

Was ich also aufschreibe, sieht ungefähr so aus und ist das sogenannte lineare Regressionsmodell für Woche zwei:

xi:regress weight_gain15months hapto birth_weight i.diarrhea i.mother_heifer i.treat_group age age_15months if age>7&age<15

Im anderen Fenster erscheinen die Ergebnisse: es gibt 65 Kühe, für die alle diese Faktoren beschrieben sind (n=65) und in einer Tabelle ist aufgelistet, wie groß der jeweilige Effekt der Faktoren auf die Gewichtszunahme ist, und ob der Effekt überhaupt signifikant (also tatsächlich bedeutend) ist, und ob er Sinn macht (denn das Programm berechnet einfach, und so kann ein Ergebnis lauten: beeinflusst das Gewicht sowohl negativ als auch positiv, und das hilft mir dann nqtürlich nichts). Leider sind für dieses Modell die Ergebnisse in der Tabelle nicht so toll, im Statistk-Jargon also: zu hohe P-Werte, zu große Konfidenzintervalle und zu großer R2-Wert (dieser sagt mir, dass das Modell insgesamt keine große Aussagekraft hat). Ich überlege. Im Alter von 15 Monaten müssten einige Kühe bereits tragend sein, was natürlich das Körpergewicht beeinflusst. Könnte das vielleicht den Effekt des Haptoglobins maskieren?

Ich habe schon ein paarmal versucht, zu erklären, was das bedeutet. Hier ist eine mögliche Metapher. Meine Outcome-Variable ist ein Swimmingpool, der mit Wasser befüllt wird. Wie schnell das geht, hängt davon ab, wie hoch der Wasserdruck ist, ob es gerade regnet, wie groß der Pool ist, und so weiter. Wir haben einen großen Feuerwehrschlauch und ein Kleinkind mit Plastikeimerchen, die beide Wasser in den Pool füllen. Wenn ich jetzt frage: Füllt das Kleinkind den Pool?, dann lautet die Antwort wohl eher nein. Der Pool wird voll, aber an dem Eimerchen liegt es nicht. Also frage ich ein bisschen anders: Wie viel Wasser fügt das Kind hinzu? Das ist mein Koeffizient, die Effektgröße. Wenn ich den dicken Schlauch zudrehe, kann ich das besser messen. Der Feuerwehrschlauch ist in diesem Fall für mich uninteressant, aber ich muss natürlich bedenken, dass das meiste Wasser von dort kommt. Wenn ich mir nur das Kind angucke, denke ich: Komisch, der Pool wird ja voll, obwohl in dem Eimerchen fast kein Wasser ist. Indem ich den Feuerwehrschlauch, in meinem Fall also die Trächtigkeit, ins Modell einfüge, kann ich besser sehen, was das Kleinkind mit dem Eimerchen, sprich mein geliebtes Haptoglobin macht.


Ich öffne also einen zweiten Datensatz, in dem drin steht ,wann die Kühe besamt wurden, wann sie auf Trächtigkeiten untersucht wurden, und wie viele Tage sie bei der Untersuchung trächtig waren. Verrechne das Ganze, füge es in meinen Hauptdatensatz ein und erstelle die Variable „Tage tragend am Tag des Wiegens mit 15 Monaten“. Das ist relativ kompliziert, also mache ich, was auch Programmierer tun: ich gucke auf der Webseite Stackoverflow nach, ob jemand bereits ein ähnliches Problem in STATA hatte, und modifiziere dann deren Code. Es kostet mich ungefähr eine Stunde, die Variable einzufügen, aber endlich habe ich das neue Modell, drücke Strg+D – und tatsächlich, jetzt sehen die Ergebnisse ganz wunderbar aus. Der R2-Wert ist bei 80% (wie viel der Poolfüllung durch mein Modell erklärt ist, 20% fehlen also – in der Realität ist es die Ernährung der Kühe, für die ich mich nicht interessiere; in der Metapher muss es wohl stark regnen), der P-Wert für Haptoglobin ist bei 0,001, und je kleiner die Zahl, desto mehr mögen wir unsere P-Werte, denn das bedeutet, dass der Effekt tatsächlich signfikant ist, und der Koeffizient liegt bei -0,04. Das widerum heißt, wenn das Haptoglobin eines Kalbs um 1 mg/dl höher liegt, nimmt es durchschnittlich 40 Gramm am Tag weniger zu als das Kalb mit niedrigerem Haptoglobin. Über den langen Zeitraum macht das dann einen großen Unterschied.

Bevor ich mich an weitere Modelle machen kann, habe ich mein wöchentliches Meeting mit meinem zweiten Betreuer Tarmo. Er hat für alle Fragen, die STATA betreffen, eine Antwort, für jedes meiner Probleme mit dem Prgramm finde ich in den Diskussionen mit ihm eine Lösung. Er findet die Fehler in meinem Code, an denen ich tagelang verzweifle, auf den ersten Blick. Heute hilft er mir auch, mein Poster für meine erste wissenschaftliche Konferenz zu verbessern.

Kaum haben wir das Videogespräch beendet, muss ich los ins Labor, wo ich mit meiner wundervollen Kollegin Elisabeth verabredet bin. Es gibt noch hunderte weitere Proben, in denen Haptoglobin gemessen werden muss. Das machen wir mit einer so genannten kolorimetrischen Methode – die Wellenlänge des durchgelassenen Lichts wird gemessen. Das bedeutet, dass wir verschiedene Stoffe zum Blutserum hinzufügen, die das Haptoglobin binden, die Reaktion beenden, und das gebundene Haptoglobin einfärben. Ein Gerät misst diese Farbe dann, und nach insgesamt etwa drei Stunden Arbeit erscheinen die Konzentrationen in einer Tabelle auf dem Bildschirm. 

Laborarbeit erfolgreich!

Als ich zurück ins Büro komme, ist auch Toomas da, unser Chef und Leiter des Lehrstuhls für klinische Tiermedizin. „Hast du den Artikel von Goetz, et al. gelesen?“, fragt er sofort. Das habe ich tatsächlich, es geht darin um Gewichtszunahmen bei Kälbern zur Fleischproduktion, und unter anderem wurde in der Studie auch Haptoglobin gemessen. „Ich kann nicht glauben, dass die Leenas Artikel nicht zitiert haben!“ Leena ist eine meiner Vorgängerinnen, sie war auch Doktorandin bei Toomas, und hat den Einfluss von Haptoglobin auf das Gewicht von Fleischkälbern untersucht. Ich habe das Paper auch abgespeichert, aber bisher nicht mehr als überflogen. Endlich nehme ich mir jetzt die Zeit, es gründlich zu lesen – und muss zustimmen: Goetz schreibt über ganz ähnliche Sachen, wie konnte er Leenas Forschung übersehen? Denselben Fehler werde ich nicht machen, ich öffne also meinen eigenen Enwurf und schreibe: „Die negative Assoziation zwischen Haptoglobin und Gewichtszunahme in den ersten Lebensmonaten wurde auch in Fleischrindern beschrieben (Seppä-Lassila, et al., 2018), und die vorliegende Studie lässt annehmen, dass dieser Effekt bis zum fünfzehnten Lebensmonat bestehen bleibt.“

Ja, ein ganzer Arbeitstag für diesen einen Satz.

Ich erzähle dem Chef, was ich heute entdeckt habe und er schreibt es aufgeregt auf die Tafel in unserem Büro. „Interessant!“, ruft er. „Also bei den Kälbern mit Durchfall bleibt der Hapto-Effekt, während Leenas Rinder mit der Atemwegserkrankung irgendwann die mit den niedrigeren Haptoglobin-Werten eingeholt haben. Wirklich interessant!“

Er setzt sich wieder hin, starrt auf die Tafel und ich kann sehen, wie sein Hirn nach einer Erklärung sucht.

Eigentlich müssen wir auch noch den Plan für mein nächstes Projekt diskutieren, die Ablammzeit steht bevor, und ich muss doch Proben von den Lämmern nehmen. Im September werde ich anfangen, Vorlesungen zu halten, auch das ist noch nicht genau geplant, und eine Masterarbeit sollte ich nach Möglichkeit auch betreuen, aber wie?

Doch es ist schon sieben, draußen wird es dunkel. Ich bin müde und hungrig. Wir machen morgen weiter.

unser berühmes Whiteboard

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