10 Dinge, die Estland besser macht als Deutschland

 Diese kleine Liste erschien im Dezember 2017 auf Englisch. Hier also endlich auch auf Deutsch!

1.      Busse und Züge sind immer pünktlich. Keine weiteren Ausführungen nötig, denke ich.


Bahngleise in Tallinn. Foto: Taaniel Malleus

2.     Schnee bedeutet nicht, dass es jetzt Staus und Verkehrsprobleme gibt. Die Busse sind immer noch pünktlich, obwohl hier nach dem Räumen so viel Schnee auf der Straße liegt wie in Deutschland vor dem Räumen. Statt einen Kinderwagen zu schieben, ziehen Eltern ihre Kinder jetzt eben auf dem Schlitten hinter sich her, das Leben geht ganz normal weiter.


Tartu imWinter

3.      Umarmungen. Es ist nicht leicht, estnische Freunde zu finden, das geben wir alle zu. Ebenso muss man sich eine Umarmung hart verdienen. Aber genau deshalb ist eine Umarmung hier auch etwas wert. Esten umarmen nicht, weil man das halt so macht, oder weil ich das als höflich empfinde – wenn dich eine Estin umarmt, weißt du, dass sie dich wirklich ins Herz geschlossen hat.

4.      Essen. Ich rede jetzt nicht von Blutwurst, Sülze, und Fisch zum Frühstück. Ich meine die Art, wie man in den Restaurants merkt, dass die Köche das Essen wirklich noch mit Liebe zubereiten. Ich meine die Tatsache, dass quasi alles ökologisch angebaut ist, dass man darauf vertrauen kann, dass alles, was in Estland angebaut wurde, auch gut ist. Ich rede von der weltbesten Schokolade (Kalev), dass hier vom Veganer bis zum überzeugten Karnivoren jeder Glücklich wird, vom Beerenpflücken in den Mooren im Sommer und Pilze sammeln im Hebst. Ich meine die Tatsache, dass man hier die Kartoffeln vom einen Nachbarn bekommt und Honig vom anderen, dass im September einfach jeder Äpfel verteilt, und man immer und überall Kräuter für Tee pflücken kann.

5.      Politisches Interesse. Ja, der Durchschnitts-Este interessiert sich tatsächlich dafür, was „da oben“ passiert. In so einem kleinen Land ist es ja auch nicht unwahrscheinlich, der Präsidentin mal zu begegnen. Und politische Entscheidungen haben hier tatsächlich Macht – und werden durchgesetzt, anders als in Deutschland, wo jede Kleinigkeit Jahre dauert. Wenn Esten über Politik reden, dann nicht, weil ihnen die Themen ausgegangen sind, sondern weil es ihnen tatsächlich wichtig ist.

6.      Stille. Ich selbst bin darin immer noch nicht allzu gut, aber so langsam gewöhne ich mich daran und lerne die Stille wertzuschätzen. Auf Englisch gibt es den Begriff „awkward silence“, der noch etwas weiter gefasst ist als peinliche oder unangenehme Stille. Im Estnischen gibt es so etwas nicht, die kennen keine unangenehme Stille. Wenn es nichts Wichtiges zu sagen gibt, dann sagt man eben nichts. Stille bedeutet nicht, dass man doch nicht so viel gemeinsam hat, oder dass die Stimmung schlecht ist. Man kann einfach in Ruhe zusammen sitzen und die Gegenwart des Anderen genießen, ohne zu reden. Und das ist doch wunderbar.

7.      Demonstrationen. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 gab es einen einzigen gewalttätigen Protest, bei dem es drei Feuer und einen Toten gab. Eine zweite Demo gab es mal in Tartu für einen Mann namens Jaanus, der vor den Augen seiner kleinen Tochter verprügelt wurde, weil er Teenagern sagte, sie sollen aufhören, Mülltonnen umzuwerfen. Rund 200 Leute stellten sich auf seine Seite. Na gut, und jetzt gibt es in Tallin auch die estnische Version der Querdenker, die gegen die Covid-19-Restriktionen protestieren, aber ich hoffe doch, dass auch das nur ein kurzer Ausflug war und wie wieder zurück können zu den unglaublich friedfertigen und winzigen Demos für Black Lives Matter oder Pride Parade.

8.      Musikalische Erziehung. Ich habe ja die Theorie, dass jeder Este irgendwann in seinem Leben mindestens eins von dreien macht: Volkstanz, im Chor singen, ein Instrument spielen.  An vielen estnischen Schulen sind Musikstunden kostenlose und man darf das Instrument dort ausleihen und zu Hause benutzen, bis man mit der Schule fertig ist. Viele Kinder lernen mehr als ein Instrument. Und wenn die Schulen diesen Service nicht anbieten, dann geht man eben zur Musikschule in der nächsten Stadt und lernt sein Instrument dort.


Mädchen auf Kihnu. Foto: Ken Oja

9.      Glühwein. Was soll ich sagen. Estnischer hõõgvein ist einfach besser als deutscher Glühwein. Und wer kann schon Nein sagen zu dem mit Vana Tallinn, der in normalen Tassen serviert wird, aber 21% Alkohol hat?

10Talent vor Titel. Weil Estland so ein kleines Land ist, und vielleicht auch durch die sowjetische Vergangenheit, oder davor durch das Nationale Erwachen… jedenfalls… sind die Hierarchien nicht so streng wie in Deutschland. Man duzt sich überall, Schüler duzen ihre Lehrer, Studenten ihre Professoren. Man wird komisch angeguckt, wenn man „Herr Professor“ sagt. Und dadurch ist es möglich, dass Titel wie „Doktor“, „Professor“ und sogar der Masterabschluss nicht so viel bedeuten wie in anderen Ländern. Wichtiger ist, ob man es drauf hat. Der Chef der Uniklinik der Maaülikool hatte diesen Posten bereits seit drei Jahren, als er dieses Jahr seine Doktorarbeit verteidigte. In Deutschland wäre so etwas ja wohl unvorstellbar. Ebenso gibt es unzählige Studienabbrecher, die nicht aufhörten, weil es ihnen zu viel wurde, sondern weil sie einen Job fanden. In genau dem Bereich, den sie studierten. Aber wenn man den tollen Job schon hat, wozu dann och sinnlos Vorlesungen besuchen? Die Art, wie es hier mehr darum geht, aus Studenten lebensfähige Mitarbeiter zu machen, wie es ums Lernen geht und nicht um Noten, um Talent und Arbeitseinsatz statt um Abschlüsse und Titel, das ist einer der Hauptgründe, warum ich meine Doktorarbeit hier machen wollte.

 

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