Der erste Sommer oder: Meine Estnische Kindheit
Als ich im Herbst sagte, das sei die beste Zeit des Jahres in Estland, dachte ich doch: wahrscheinlich werde ich das über jede Jahreszeit sagen. Aber beim Sommer bin ich mir nicht sicher. Es ist mein erster ganzer Sommer hier, und ich kann mich noch nicht entscheiden, ob er mir gefällt. Aber eines ist sicher: Um die Esten zu verstehen, muss man den Sommer kennen. Nur dann macht alles, was sie im Winter tun, Sinn.
Aber ich muss ein bisschen zurückgreifen, denn die Geschichte beginnt Ende April, als ich mir einen kleinen Geländewagen zulege. Aus umwelttechnischer Sicht habe ich natürlich ein ziemlich schlechtes Gewissen, aber wenn man in Estland auf dem Land lebt, kommt man um ein Auto nicht herum (dazu wohl ein andermal mehr). Es ist ein typisches erstes Auto und genau das, was ich brauche: Allradantrieb, nicht zu groß für Parkplätze in der Stadt, aber groß genug, um all mein Laborequipment und vier Menschen zu transportieren, bereits mit einigen Kratzern und Macken, ein bisschen klapprig. Ich nenne ihn Hugo, eigentlich, weil mich sein Gesicht an einen Hund namens Hugo erinnert, aber wie ein Bekannter es ausdrückt: „Hugo – nicht im besten Zustand, aber Mann, der hat schon Sachen gesehen!“
Als ich meine Vorräte an veganen Essentials, meinen Rucksack mit persönlichen Dingen und mein Laborequipment eingeladen habe und losfahre, sind die Winterreifen mit den Spikes noch drauf. Es ist Mitte April und Schnee nicht unwahrscheinlich. Die Nächte sind kalt. Das einzige Paar Schuhe, dass ich dabei habe, sind meine Winterstiefel, und ich trage einen dicken Wollpulli. Fünf Wochen später werde ich wieder zurück nach Tartu kommen – und dann wird das alles ziemlich albern aussehen.
Ich beginne mit der Feldarbeit für meine Forschung: Während der Ablammsaison werde ich auf einer Schaf-Farm Blutproben von Lämmern sammeln, jeden Tag, bis ich genug Tiere für die Studie zusammen habe, und dann jede Woche. Damit meine Daten später präziser werden, haben wir beschlossen, nicht „immer dienstags“ die Proben zu nehmen, sondern genau an Tag 10, 17 und 24 jeden einzelnen Lammes. Das bedeutet: Fast jeden Tag Proben nehmen, aber es bedeutet auch weniger Arbeit pro Tag. Und weil der Hof, mit dem unsere Forschungsgruppe kooperiert, 100 Kilometer von Tartu entfernt ist, hat der Schafzüchter angeboten, dass ich doch einfach bei der Familie mit im Haus wohne, damit ich nicht so viel hin- und herfahren muss.
Da stehe ich also, an einem frostigen Mittwochmorgen, nach einer eineinhalbstündigen Fahrt über Schotterstraßen, mitten im estnischen Nirgendwo, im Karula Nationalpark, vor einer siebenköpfigen Familie, von der ich nur den Vater durch zwei kurze Treffen kenne. Hier werde ich fünf Wochen lang wohnen. Ein paar Tage habe ich Zeit, mich an die täglichen Abläufe zu gewöhnen und mein Labor einzurichten, dann werden die ersten Lämmer geboren werden und es geht los.
Aber was hier auch beginnt, ist meine estnische Kindheit. Ich habe enorm großes Glück – die Familie und ich verstehen uns blendend. „Ach, einfach ein Kind mehr, kein Problem, dann mache ich deinen Haferbrei eben mit pflanzlicher Milch. Möchtest du Tee?“ Das ist Liilia, die mich quasi adoptiert. „Ich hoffe, du magst Musik, die Kinder lernen Trompete, Klavier, Geige und Schlagzeug“, sagt Ants, der Vater, und führt mich zu Tochter Aale, in deren Zimmer ich wohnen werde und die mir als Assistentin die ganze Zeit zur Verfügung stehen wird. „Das da ist Kalle, das ist Mari und da kommt Pini angerannt“, stellt mit der neunjährige Meel die drei Hütehunde vor. Und der kleine Aho testet mein estnisch: „Weißt du, wie das da heißt?“ – „Ja, das ist ein Stuhl.“ - „Aber wie heißt das da?“ – „Hmm, da bin ich mir jetzt gar nicht sicher. Ist es eine Treppe?“ – „Hihihi, nein, das ist eine Leiter!“
Sie alle sprechen mit mir estnisch, mit den Eltern und der ältesten Tochter werde ich auch viele Gespräche auf Englisch führen, wenn es mir zu kompliziert wird, oder wir etwas Tiefgründigeres besprechen wollen. Ich lerne also viele neue Wörter, und ich lerne, mich zu trauen. Die Grammatik mag nicht immer stimmen, und oft sage ich komische Sachen, wie „Und dann muss man die Sahne werfen“, aber ich werde trotzdem verstanden und stets korrigiert.
Ich lerne, wie sich Kindheit in Estland anfühlt, nicht nur, weil ich lerne, wie man Blumenkränze aus Löwenzahn macht. Es gibt Grießbrei, Haferbrei oder Milchreis zum Frühstück, immer mit selbstgemachter Marmelade. Dazu Tee aus verschiedenen Kräutern, die man natürlich auch selbst im Garten oder Wald gesammelt hat. Frühstück gibt es erst um neun. Da die Schafe nicht gemolken werden müssen und die Kinder zu Hause unterrichtet werden, und da die Sonne so spät aufgeht, gibt es keinen Grund, früh aufzustehen. Und daher dürfen auch die beiden Jüngsten abends bis um elf aufbleiben.
Ich komme mit zum Wocheneinkauf ins nächste Dorf, mache sonntags, wie es sich gehört, Pfannkuchen, gucke Abends Kinderfilme mit an, spiele mit den Hunden und auf den selbst gebauten Schaukeln. Fahre die Kinder in die hässliche Stadt Valga zur Musikschule. Im Auto singen wir alle immer lauthals bei der Musik mit, egal, ob estnischer Folk oder britischer Pop. Helfe beim Füttern der Schafe. Trinke Birken- und Ahornsaft, den man im Frühling von den Bäumen abzapft. Ich wiege Lämmchen auf einer Küchenwaage, nehme ihnen Blut ab, melke von ihren Müttern ein wenig Biestmilch ab, die ich ebenfalls für meine Forschung brauche. Während ich im Labor sitze und das Blut zentrifugiere, in kleine Gefäße abfülle und einfriere, unterhalte ich mich mit Aale über Schafe, Bauernhöfe, Musik und Jungs.
Schule habe ich auch. Beim Aufräumen finden wir ein Arbeitsheft „Natur- und Sachkunde, 2. Klasse“, also setze ich mich neben die Kinder an den Tisch, und während Hava eine Onlinestunde anhört, Aale Mathe macht, und die zwölfjährige Loo Geschichte, helfen die Jungs und ich uns gegenseitig. Ich bekomme von ihnen all die Wörter erklärt, die ich nicht kenne, während ich mich mit den Aufgaben über estnisches Wetter, Wildtiere und Bäume vertraut mache, Aho hilft mir beim Ausmalen der Bilder im Arbeitsheft und ich sorge im Gegenzug dafür, dass er nicht wegrennt, sondern seine Schönschreibaufgaben zu Ende macht, und helfe Meel mit seinen Englisch-Aufgaben. Noch sprechen die beiden kein Englisch, obwohl sie bereits ein paar Wörter verstehen, aber genau deshalb sind sie meine besten Lehrer.
„Zum Geburtstag viel Glück“ wird auch auf Estnisch genauso gesungen wie auf all den anderen Sprachen, allerdings lerne ich an Ants‘ Geburtstag etwas dazu: Man singt es nicht einfach ein- oder dreimal. Man singt es mehrfach, immer schneller werdend, so lange, bis man nicht mehr schneller singen kann oder alle lachen.
Am ersten Mai, wie es sich an Feiertagen gehört, wird die Fahne gehisst, und Ants spielt auf der Terasse Trompete. Es wird endlich warm. Während der Siebenjährige jetzt nur noch in kurzer Hose und manchmal noch T-Shirt herumläuft, bin ich mit barfuß schon ganz zufrieden. Ich schlendere gemütlich durch den Garten, kuschle mit den Wachhunden (insgesamt leben neun Hunde auf dem Hof), sitze in der Sonne, beobachte die Schafe. Es fühlt sich an wie Ferien, obwohl es Arbeit ist. Dazu noch das späte Aufstehen, das lange Frühstück – das Leben geht hier langsamer. Und was hat es schließlich für einen Sinn, zu hetzen? Es gibt immer etwas zu tun, jeden Tag werden neue Lämmer geboren, jeden Tag müssen alle Tiere gefüttert werden, jeden Tag muss etwas am Haus repariert werden (oder erstmal gebaut, es ist nach zehn Jahren immer noch nicht fertig), wenn man sich beeilt, ist man auch nicht schneller fertig. Aale erzählt mir, dass Ants ihr eine Stunde vor meinem Eintreffen verkündet hat, dass eine Doktorandin über einen Monat lang in ihrem Zimmer wohnen würde – sich um die Zukunft Sorgen zu machen, bringt doch auch nichts, sagt er.
Nach einem langen Winter in der Stadt, der doch oft einsam werden konnte Dank der Pandemie, gibt mir das Land- und Familienleben das Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können. Hier kann man schnell vergessen, dass Covid-19 die Welt beherrscht, dass andere Leute Parkplatzsorgen haben oder ihre Nachbarn hören können. Als ich Mitte Mai wieder nach Tartu zurück komme, erscheint mir die Stadt zu groß, zu laut, zu voll. Aber ab jetzt habe ich immer einen Ort, an den ich mich zurückziehen kann, wo sich sofort Hunde und Kinder auf mich stürzen, wenn ich ankomme – ich bin jeder Zeit eingeladen. Und wie es sich für Gäste dieses Hofes gehört, frage ich nicht, ich kündige an, dass ich vorbei komme. Bauern sind immer zu Hause und haben nie Zeit.
Der Frühling war besonders kurz in diesem Jahr, schon geht der Sommer los. Ich lege die gesammelten Schlüsselblümchen zum Trocknen aus. Koche frischen Pfefferminztee. Beginne Gemüseexperimente in Töpfen auf der Fensterbank und finde ein paar Straßen weiter einen Nachbarschaftsgarten, wo ich Gemüse einpflanzen kann und zusammen mit anderen jungen Frauen herumtanze. Ziehe die Sommerkleider hervor. Koche Marmelade ein. Liege mit Freunden im Gras. Und weil ich ja jetzt quasi eine siebenjährige Estin bin, wird es Zeit, ein Instrument zu lernen. Private Musiklehrer gibt es kaum, klassischerweise geht man an eine Musikschule, wo man Instrument und Lehrer wählt und auch Theoriestunden bekommt. Ich frage also bei der Musikschule in meiner Nähe an, ob es jemanden gibt, der zur Not mit mir Englisch sprechen könnte, und ob sie auch erwachsene Schüler nehmen. „Kein Problem“, schreibt die Direktorin, „komm doch am ersten Juli vorbei, dann kannst du dir alles angucken.“ Da stehe ich dann also, sage, ja, Theoriestunden können nicht schaden, ich habe ja kein Musikvokabular auf Estnisch und die Esten sind so ein musikalisches Volk, ich muss mich anpassen, will mich ein bisschen auskennen. Das Instrument, das ich lernen möchte, ist die Karmoška. Es ist die kleine Cousine des Akkordeons, leichter, leichter zu erlernen und ursprünglich aus Russland. Im Süden Estlands, vor allem im alten Võrumaa, wo ich bis vor kurzem gelebt habe, wird sie viel gespielt.
„Alles klar“, sagt die Direktorin, „und was wirst du für uns singen?“ Ich bin verwirrt. „Nochmal die Frage auf Englisch bitte.“ Aber ich habe richtig verstanden. Ich bin nicht einfach zum Umgucken da. Ich bewerbe mich auf einen Platz an der Musikschule und muss beweisen, dass ich nicht komplett unmusikalisch bin. Darauf war ich nicht vorbereitet. Aber zum Glück gibt es ja Curly Strings, deren Lieder wir in den letzten Wochen andauernd gesungen haben! Ich bin also aufgenommen und werde im Herbst mit den Musikstunden beginnen.
Und dann geht der echte estnische Sommer los. Wo man jede freie Minute mit Freunden verbringt, aber gleichzeitig niemand jemals Zeit hat. Man jedes Wochenende aufs Land fährt, im See schwimmt, frische Birkenzweige mit in die Sauna nimmt, über dem offenen Feuer grillt (einen Grill, wie man ihn in Deutschland benutzt, habe ich hier noch nirgends gesehen).Man geht zwar zur Arbeit, aber man macht langsam, es passiert zwischen Mittsommer (24. Juni) und Ende August nicht viel. Man kühlt sich im Fluss ab, man geht auf Konzerte und Festivals, man zeltet im Wald. Im Garten ist viel Arbeit, jetzt ist die Zeit, alles zu sammeln und einzukochen, um über den Winter zu kommen. Man wacht um halb sechs morgens auf, weil es zu heiß ist, und vor zwölf kann man nicht schlafen gehen, weil es zu hell ist. Geschlafen wird im Winter. Endlich verstehe ich, warum man im Winter erst so spät zur Arbeit geht, so lange schläft. Woher all der Kräutertee kommt. Warum die Esten über Dunkelheit und Kälte jammern. Und warum Supermärkte grundsätzlich bis abends um zehn geöffnet haben – das ist schließlich erst früher Abend. Sommer bedeutet aber auch: Mücken. So viele Mücken, dass ich es in der Dämmerung keine zehn Minuten draußen aushalte. Und die Dämmerung ist lang, der Sonnenuntergang dauert Stunden. Die weißen Nächte haben begonnen. Irgendwann zwischen ein und zwei Uhr nachts guckt man an den Horizont und fragt sich: Ist das noch Sonnenuntergang oder schon Sonnenaufgang. Offiziell geht die Sonne irgendwann um drei auf und die Fotografen prahlen auf Instagram damit, wie wenig sie schlafen, um tolle Bilder zu machen. Es ist ein bisschen dämmrig zwischen zwölf und halb drei, aber komplett dunkel wird es nie.
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