Lockdown - Teil 1

 


An dem Tag, als unsere heile Welt auf den Kopf gestellt wurde, stand ich am Flughafen. Gerade hatte ich die vorletzte Prüfung meines Studentenlebens geschrieben und konnte es nicht erwarten, mit meinen Freunden in Tartu meine Geburtstagsfeier nachzuholen.

Es ist Donnerstag, der 12. März 2020, morgens um acht in Hannover. Flug gestrichen. Und jetzt? Für einen Moment überlege ich, wieder nach Hause zu fahren, mich an den Schreibtisch zu setzen wie alle meine Kommilitoninnen. Neben der Prüfung ist da schließlich diese Krankheit, die sich inzwischen von China aus ausgebreitet hat. Die ist schuld, dass die Hälfte aller Flüge ausfällt.

Aber meine Freundin wartet auf mich, sie hat eine einsame Hütte mitten in der estnischen Wildnis für uns gebucht, wo wir hinwandern wollen und die Chance haben, wilde Tiere zu beobachten. Ich warte seit über einem halben Jahr darauf, endlich wieder nach Estland zu können. Also mache ich mich auf den Weg. Mit dem Zug nach Berlin, von da aus nach Tallinn. Ungeduldig werde ich am Flughafen erwartet, vor Sonnenuntergang werden wir es auf keinen Fall mehr schaffen. Am Flughafen sind Desinfektionsmittelspender aufgestellt worden, manche Menschen tragen Atemschutzmasken. Noch wissen wir nicht genau, mit was für einem Virus wir es zu tun haben.

Wir machen uns auf in die Wildnis. Der Vermieter der kleinen Jagdhütte fährt uns mit dem Quad durch den Matsch. Tatsächlich ist es inzwischen stockdunkel. Es regnet. Manchmal bleiben wir im Schlamm stecken. Ich sitze ganz hinten auf dem kleinen Fahrzeug und bekomme so zwar am wenigsten Regen ab, aber auch am wenigsten Sitzfläche. Als wir nach etwas über einer halben Stunde an der Hütte ankommen, sind meine Finger steif, meine Beine tiefgekühlt und mein Hintern vom Gepäckträger völlig gefühllos. Also erstmal Feuer machen, eine Kleinigkeit essen, einen Schnaps mit dem Vermieter trinken, der einige spannende Geschichten zu erzählen hat. Er freut sich, dass ich ein paar Worte estnisch kann, und dass meine Freundin sich verdammt gut mit der örtlichen Fauna auskennt. „Dann seid ihr ja fast keine Touristinnen mehr“, scherzt er. Und wir diskutieren, woran man dieses Gefühl eigentlich festmacht. Es gibt wenig Ecken, die meine Freundin hier noch nicht gesehen hat. Kaum eine Straße, die sie noch nicht gefahren ist. Ich hingegen kenne weitaus weniger der estnischen Landschaften, aber dafür finde ich meinen Weg blind durch Tartu. Kann mich ein bisschen mit den Leuten unterhalten und anderen Touristen den Weg zeigen. Und wenn ich nach Estland komme, weiß ich immer: irgendwer wird schon da sein, auf dessen Sofa ich schlafen kann, der mich zu seiner Familie mitnimmt…

 

Nach einem Bier lässt uns der Este allein und wir heizen die Sauna an. Klar, wozu sonst in einer kleinen Hütte im Wald sein? Barfuß und in Handtücher gewickelt rennen wir danach nach draußen, in der Hoffnung, am Salzleckstein in der Nähe mit der Wärmebildkamera noch einen Elch oder zumindest ein Reh zu entdecken. Doch der Motorlärm vorhin hat alle verjagt.

Als ich noch einmal kurz mein Handy einschalte, sehe ich, dass ich mehrere Anrufe verpasst habe und unzählige Nachrichten: Estland hat die Grenzen geschlossen. Es gibt kaum noch Flüge. Mit Bus oder Zug kann ich auch nicht fahren, weil ich dann an Polens Grenzen stecken bleiben würde. Es ist offiziell: Das neue Virus hat sich zur Pandemie entwickelt, alle wissen nur, dass sie ihre Leute schützen müssen, aber keiner weiß bisher so richtig, wie. Ich versuche also, die Airline zu kontaktieren: Wie komme ich hier wieder weg? Ich wollte noch nie aus Estland weg, aber ich habe doch noch eine Prüfung! Und mit Ausländern will momentan eigentlich auch niemand etwas zu tun haben, also will die Hälfte meiner Freunde mich gar nicht treffen.

 

Am nächsten Morgen beginnen wir zu streiten. Eigentlich wollten wir kurz vor Sonnenaufgang losgehen, um Tiere zu sehen. Doch nach der ganzen Aufregung gestern und weil es wirklich spät geworden ist, schaffe ich es nicht, rechtzeitig aufzustehen.

Mehr oder weniger gut gelaunt macht jede für sich einen Spaziergang und dann brechen wir auf Richtung Auto. Meistens erkennen wir den Weg nur an den tiefen Spuren des Quads, doch manchmal geht es auch einfach querfeldein. Der Wald und die Felder sind noch winterlich grau und abweisend. Eine tote Birke reckt sich einsam vor dem fast weißen Himmel.



Wir fahren weiter, aus Jõgevamaa raus und ins Alam-Pedja Naturschutzgebiet. Was ich darüber nicht wusste: es handelt sich um einen Sumpf. Statt rutschigen Holzplanken und matschigen Wegen, wie ich dachte, erwartet uns hier: ganz viel Wasser. Schließlich ist in den letzten Wochen der Schnee geschmolzen und jetzt regnet es andauernd. Unseren Weg kann man gut erkennen: Es ist der Bach vor unseren Füßen. Nach einer Stunde gebe ich auf, um die größten Pfütze herumzusteigen und laufe mit meinen komplett durchnässten Schuhen einfach stumpf durchs Wasser. Meine Freundin hat derweil Angst, in dem matschigen Untergrund stecken zu bleiben. Wir konzentrieren uns auf den Pfad und können die Natur kaum genießen. Anstrengend ist dieses Waten auch. Und schon wieder nähert sich der Sonnenuntergang. Wenn wir nirgendwo falsch abbiegen, schaffen wir es gerade so im Tageslicht zu unserer nächsten Hütte.

  

Leider sind wir beide schon ziemlich schlecht gelaunt. Sie ärgert sich, dass ich keine Gummistiefel anhabe und gegen ihren Rat auf meine leichten Wanderschuhe bestanden habe, und ich ärgere mich, dass sie nur so langsam vorankommt. Dann stehen wir vor einer Art See. Das Wasser ist knietief und selbst Gummistiefel nutzen hier nichts mehr. Und auf der anderen Seite können wir nicht erkennen, wo es weitergehen soll. Ich schlage mich ein bisschen durchs Unterholz, versuche eine Stelle zu finden, an der man halbwegs trocken vorbeikommt, aber wo zur Hölle ist der Weg? Es ist hoffnungslos, wir wissen nicht, in welche Richtung wir müssen. Wir haben noch eine Stunde, dann wird es dunkel. Das GPS-Signal ist schwach, der Handyempfang schlecht. Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch bis zum Auto, solange man noch etwas erkennen kann. Aber was dann? Wohin?


 

Fortsetzung folgt...

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