Lockdown - Teil 2


 Wir sind beide völlig frustriert und mit den Nerven am Ende. Wir kämpfen uns zurück bis zu einer Stelle, an der wir genug Empfang haben, um den Besitzer der Hütte zu erreichen. Er verspricht, uns aufzusammeln und den Weg zur Hütte zu zeigen. Als er endlich da ist, wird es gerade dunkel. Er hat Stiefel für mich dabei, eine Stirnlampe und heißen Apfelsaft. Ich wechsele die Schuhe, krame meine eigene Stirnlampe hervor und wir folgen ihm. Er ist selbst überrascht davon, wie überschwemmt alles ist und sich an einigen Stellen nicht ganz sicher, ob er wirklich den richtigen Weg genommen hat. Am Ende müssen wir noch durch einen Bach staksen. Er hat einen Baum im fast einen Meter tiefen Wasser versenkt und mit Ästen als Stütze balancieren wir hindurch. Die Hütte steht auf einer Lichtung, ein paar Meter entfernt ist ein Teich, Holz und ein Plumpsklo unter den Bäumen versteckt.

„Einen Schlüssel gibt es nicht“, erklärt unser Vermieter. „Früher haben die Leute dann immer das Fenster eingeschlagen. Da ist es mir ja lieber, sie gehen durch die Tür.“

Er macht uns noch ein Feuer, dann ist er wieder weg. Ich hole Holz, hacke ein Loch in das Eis auf dem Teich und schleppe Wasser an, das wir zu Trinkwasser abkochen und zum Waschen aufheizen, während meine Freundin die Sauna aufwärmt.

So richtig warm wird es aber nicht, bevor mir die Augen zu fallen. Und wie ich wieder nach Hause komme, weiß ich immer noch nicht.


 

Wieder schlafen wir länger, als uns lieb ist. Ich gehe nach draußen, suche nach Holzstücken, die möglichst wenig Eis enthalten, und hacke sie klein genug für den Ofen. Wir haben gerade das letzte Holz verfeuert, das noch da war. Nach dem Lärm haben wir natürlich wieder keine Chance auf Elche, dabei ist das hier eine Lichtung, auf der sie sich angeblich gerne aufhalten. Und die Jahreszeit ist ideal. Immerhin scheint jetzt die Sonne und unsere Klamotten sind in der Sauna über Nacht nahezu trocken geworden (bis auf meine Schuhe). Endlich genießen wir eine Wanderung durch die Moorlandschaft. Es wird Frühling. Wir sind im wunderschönen Estland. Die ersten Knospen sprießen an den Bäumen.


Und wie wir zum Auto zurückkommen, wissen wir ja jetzt auch.

Während wir unsere Sachen zusammenpacken, kommt ein Mann auf unsere Hütte zu. Ohne anzuklopfen, tritt er ein. „Guten Morgen“, grüße ich auf Estnisch, woraufhin er einen estnischen Wortschwall auf mich loslässt. Der Nachteil, wenn man mit kaum merklichem Akzent spricht. Immerhin verstehe ich, dass er Fotograf ist, und ein Bild aufhängen möchte. Er scheint ein Freund des Besitzers zu sein. Nachdem er das Bild aufgehängt hat, wird ihm klar, dass mit mir etwas nicht stimmt, und ich gebe zu, dass ich nur die Hälfte dessen verstehe, was er sagt. Auf Englisch fragt er, wie es uns hier ergeht und ob wir genug Holz haben. Ich nicke, und wir verabschieden uns. Er ist tatsächlich morgens um acht eben schnell eineinhalb Stunden durch den Sumpf gelaufen, nur um ein Bild aufzuhängen. Ich ziehe meinen Rucksack zu und mein Blick fällt aus dem Fenster. Ich habe die Axt neben dem gefrorenen Holz stehen lassen. Der Fremde hackt es gerade klein, stellt die Axt wieder ab und geht.


Auf der Fahrt nach Tartu reden wir über all die Missverständnisse, über vergessene Gummistiefel und Frustrationen. Über unsere Ängste und wie wir in Zukunft besser miteinander reden können, damit nicht die eine „wir wollen Tiere beobachten“ und die andere „wir gehen wandern, vielleicht läuft uns ein Tier über den Weg“ versteht. Alles ist wieder gut.

Einen kleinen Abstecher müssen wir noch machen: In der Nähe von Põltsamaa gibt es einen Ort, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es da was anzugucken gibt und von dem meine Freundin noch nie gehört hat: Das Gut Võisiku. Ich kenne es aus Jaan Kross’ historischem Roman „Der Verrückte des Zaren“. Wir fahren also hin, und tatsächlich, das Gut steht noch da, neben dem kleinen Friedhof, auf dem der Protagonist des Romans, den es wirklich gab, begraben liegt. Von innen besichtigen kann man es allerdings nicht: Es ist jetzt ein Heim für geistig Erkrankte.


Wir kommen nach Tartu und treffen auf die Unsicherheit, die ich aus den Medien und mir selbst kenne: alles steht Kopf, das Land ist im Lockdown, niemand weiß, wie es weitergeht. Das erstbeste vegane Restaurant ist noch geöffnet. „Bisher haben wir nichts Gegenteiliges gehört“ sagt die Frau am Tresen und nimmt unsere Bestellung auf.

Dann heißt es Abschied nehmen von meiner Freundin und auf zu Madis. Weil seine Freundin möglicherweise Kontakt mit einer infizierten Person hatte, hat sie sich in Quarantäne begeben – ich kann also doch nicht auf der Couch schlafen. Doch mein bester Freund wäre nicht er selbst, wenn er nicht noch eine Lösung für mich hätte: irgendeine Verwandte ist länger im Ausland, ihre Wohnung steht leer und ist komplett möbliert. Ich werde also mit einer großen Tasche Lebensmittel und den Schlüsseln ausgestattet und ziehe in einen Plattenbau. Es ist ein typisches Sowjetgebäude: Außen hässlich, innen hauptsächlich praktisch. Und Zentralheizung heißt hier klassischerweise: wirklich zentral. Ich reiße also erstmal die Fenster auf, weil ich keine andere Möglichkeit habe, die Temperatur zu regulieren. Putze, um mich ein bisschen nützlich zu machen.

Am nächsten Tag spaziere ich durch die menschenleeren Straßen. Wenn mir doch einmal ein Mensch begegnet, wechselt er schnell die Straßenseite. Supermärkte haben geöffnet, aber der Buchladen, in den ich unbedingt wollte, nicht. Ich setze mich schließlich im botanischen Garten, der noch nicht wirklich zum Leben erwacht ist, in die Sonne und verwende meine letzten mobilen Daten und Nerven darauf, endlich einen Flug nach Hause zu finden. Dass ich ausgerechnet „Roman eines Schicksallosen“ als Reiselektüre gewählt habe, trägt auch nicht gerade zur Stimmungsaufhellung bei.


Schließlich sitze ich im Bus nach Tallinn. Ich will morgens schon drei Stunden vorher am Flughafen sein, falls mein Flug wieder gestrichen wird, dann habe ich immerhin noch die Chance auf eine Maschine nach Frankfurt. Während der Busfahrt erfahre ich, dass meine letzte Prüfung aus Infektionsschutygründen nicht stattfinden kann und auf unabsehbare Zeit verschoben werden soll. Mein Semester ist im Aufruhr, Viele haben schließlich schon einen Job, den sie aber erst antreten können, wenn das Studium beendet ist.

Da mich auch in Tallinn niemand auf der heimischen Couch unterbringen kann oder will, checke ich in ein Hotel ein, das ebenfalls fast leer ist. Gegenüber befindet sich noch eine Sehenswürdigkeit, und so muss ich morgens um kurz vor fünf vor meiner Abreise noch einmal Touristin sein: Genau hier fand der Bauernaufstand statt, der als Aufstand der Georgsnacht in die Geschichte eingegangen ist – und der gerne als Zungenbrecher für Ausländer verwendet wird: Jüriööülestõus heißt das nämlich im Original. In der morgendlichen Dunkelheit gucke ich mir also das Denkmal an.


Als ich Stunden später zu Hause ankomme, hat sich schon wieder alles geändert: Die Prüfung soll doch stattfinden, unter ganz besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Also ab an den Schreibtisch.  Und wieder ein paar Tage später: Doch keine Prüfung. Deutschland hat auch die Grenzen dicht gemacht, Massenveranstaltungen sind verboten, mehr als 10 Personen dürfen sich nicht in einem Raum aufhalten. Also keine Prüfung, keine Zeugnisverleihung, kein Abschlussball. Ein kompletter Lockdown mit Ausgangsverbot steht im Raum, also springe ich in den Zug, solange man das noch darf, und fahre aufs Land. Mache zwei Wochen Quarantäne, falls ich mir auf der Reise das Virus eingefangen habe. Trainiere für den Halbmarathon, der natürlich auch nicht stattfinden darf. Und: schreibe meine Prüfung, online, vom Sofa aus. Und meine erste und vorerst einzige Bewerbung. Mit Bewerbungsfoto, das wir im Wohnzimmer aufgenommen haben.

Dann heißt es warten. Warten, ob man sich jemals wieder mit Freunden treffen darf, verreisen, die Großeltern besuchen. Warten auf Zeugnis und Approbationsurkunde, die ich nicht festlich vom Präsidenten der Uni überreicht bekomme, sondern per Post nach Hause. Warten, ob ich meine Doktorarbeit in Estland schreiben darf.


 

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