Ein Jahr in Estland: Sommer

 Roadtrip mit Hugo

Das erste, was ich je über diese Region gehört habe, war: „Das einzig Positive an Ida-Virumaa ist HIV“.

Ida-Virumaa liegt am nordöstlichsten in Estland und die größte Stadt der Region, Narva, ist offiziell der östlichste Punkt der EU. Eine hoch eingezäunte und gut bewachte Brücke führt über den Fluss Narva nach Russland. Narva ist nach Tallinn und Tartu die drittgrößte Stadt des Landes, und als ich zum ersten Mal in dieses Eck Estlands kam, war das auch der einzige Ort, den ich besuchte – was gab es denn sonst zu sehen in Ida-Virumaa?

Wie sich herausstellte: Eine ganze Menge. Ida-Virumaa ist mit dem Ölschieferabbau die Energiequelle des Landes – 76% des Stroms stammt daraus, und 4% des BIP (zumindest sagt Wikipedia das). Der Schieferabbau erlebte seine Hochzeit während der Sowjetischen Besetzung in den 1980ern.


Die seltsamen Hügel der Minen prägen die Landschaft, wenn man sich zwischen Rakvere und Narva bewegt. Die Natur ist an vielen Stellen dieser Ruinen Herr geworden, und die Hügel sind im Winter ziemlich gut zum Snowboarden geeignet. Also was ist das Problem?

Laut Volkszählung (2011; die nächste ist gerade in Arbeit und wird dieses Jahr veröffentlicht) sind 73% der Bevölkerung von Ida-Virumaa russischer, und nur 19% estnischer Abstammung. Als Estland Teil der Sowjetunion war, kamen viele Russen in die Gegend (freiwillig oder unfreiwillig), und sind geblieben. Wenn alle Nachbarn Russisch sprechen, der Schulunterricht auf Russisch stattfindet, und man mit allen Freunden nur Russisch redet, gibt es kaum einen Grund, Estnisch zu lernen. Und wenn die ganze Familie nur Russisch spricht, sind auch die Möglichkeiten zum Lernen begrenzt. Aber wer kein Estnisch kann, schafft es nur schwer an die Universität – und auch die nächste Generation bleibt also in dieser russischen Gemeinschaft, kaum integriert. Und wer doch weggeht, kommt wahrscheinlich nicht zurück.

Wenige Menschen möchten in Ida-Virumaa leben, die Russen verbringen selten Zeit im Wald (wo die Esten jede freie Minute verbringen), und genau deshalb, glaube ich, ist die Natur Ida-Virumaas so schön.


Ich wollte ans Meer, und am nächsten ist die Küste in Ida-Virumaa. Da ich bisher nur in Narva gewesen war, sammelte ich Vorschläge, warf ein paar Sachen in mein Auto namens Hugo und fuhr los. Die Straße, die nördlich aus Tartu herausführt, bringt einen direkt nach Jõhvi, Ida-Virumaas Hauptstadt. Einer von Estlands fünf Nationalparks, Alutaguse, befindet sich in Ida-Virumaa, aber der steht weiterhin auf meiner Liste, da er nicht am Meer ist. Stattdessen halte ich zuerst in Kohtla-Järve, einer grauen Stadt ohne besondere Sehenswürdigkeiten. Ich denke, wenn man ein Land wirklich kennen lernen will, muss man sich die hässlichen Orte angucken. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Leute wirklich leben. Ein kleiner Hund kläfft mich aggressiv an. Sein Frauchen ruft mir etwas auf Russisch zu und mir wird klar, dass ich jetzt theoretisch in Russland bin. Wenn ich mich hier bewege, gehen die Leute davon aus, dass meine Muttersprache Russisch ist, und die Statistiken sprechen für diese Annahme. Wegweiser und Logos sind zweisprachig, die Architektur sowjetisch, einzig die Straßennamen beweisen, dass ich noch auf estnischem Boden bin. Manche Häuser sind so heruntergekommen, dass ich kaum glauben kann, dass hier tatsächlich Leute wohnen – aber sie tun es. Die Straßen sind breit, öffentliche Gebäude von weitläufigen Parks umgeben; es sieht genauso aus, wie ich mir eine sowjetische Kleinstadt vorstellen würde.

Also weiter an einen schöneren Ort. Ich verbringe die Nacht im Garten vom Saka Gutshaus, einem der vielen alten deutschen Gutshäuser, die zu Hotels umgebaut wurden. Dieses hier ist nicht nur ein Luxushotel, sondern hat auch einen kleinen Campingplatz, sodass ich günstig davonkomme, ohne auf eine Dusche verzichten zu müssen. Eine Treppe führt durch den Wald 48 Meter in die Tiefe – und ich finde das erste Paradies dieser Reise. Ich fühle mich wie in einem Film, in dem ich auf einer einsamen Insel gestrandet bin – Sonnenuntergang hinter dem Meer, Sandstrand, hinter mir der Wald den Berg hinauf…  Nur, dass hier natürlicher türkisfarbener Ton im Kliff aufblitzt und statt Palmen Farn und Kiefern den Strand säumen.

Saka

Auch nachdem die Sonne schon lange untergegangen ist, wird es nicht dunkel. Sommer im Norden. Am nächsten Morgen mache ich mich auf, das Landschaftsschutzgebiet von Ontika zu erkunden. Stellt sich heraus, man muss gar nicht bis nach Thailand, um Postkarten-Strände zu finden. Neben dem Valaste Wasserfall, dem höchsten des Landes, führen mehr Treppen nach unten. Ich halte meine Tasche so fest ich kann. Wenn mir hier meine Schlüssel oder mein Geldbeutel herunterfallen, finde ich die Sachen nie wieder. Aber die Aussicht ist es wert. Genauso wie der Schatten, den der Wald spendet (ja, es kann wirklich heiß werden in Estland), und ein kurzes Bad in der Ostsee.

Ontika

Ich fahre weiter Richtung Osten, wo sich eine weitere Schönheit versteckt: Toila. Eine Kleinstadt voller Gästehäuser und Spa-Hotels, die den Eindruck macht, als würde halb Estland den Sommer hier verbringen. Dabei ist das hier einer von vielen Orten für den Sommerurlaub. Deshalb bin ich nicht hier, sondern wegen des Oru Parks. Der gehörte ursprünglich zum Schloss von Toila, enthält einen botanischen Garten und ich frage mich, warum dieser Ort in Reiseführern nicht mehr betont wird. Familien mit Kindern sammeln Lindenblüten für Tee (bei uns in Tartu ist die Blütezeit schon vorbei), junge Paare posieren für Instagram-Fotos. Ich könnte auch in Frankreich oder Italien sein. Man kann sich beinahe im Park verlaufen, so groß ist er; man kann Ecken ganz für sich alleine genießen. Schließlich stoße ich auf den deutschen Soldatenfriedhof. Während des Zweiten Weltkriegs befand sich ein Kriegshospital in Toila, und die deutschen Soldaten, die hier starben, wurden im Oru Park begraben. In 2008 verschenkte die Stadt das Land an eine Deutsche Organisation, die diesen Teil des Parks in ein Denkmal verwandelt hat. Ida-Virumaa ist zwar ziemlich russisch, aber auch hier haben die Deutschen Spuren hinterlassen, wie überall in Estland. Im Garten von Saka steht auch ein Denkmal mit der Inschrift „Umsiedelung“ im Gedenken an die Baltendeutschen, die 1939 und 1940 nach Deutschland umgesiedelt wurden. Mir wird immer ein bisschen unwohl bei diesem Teil estnischer Geschichte, also mache ich mich auf zu meinem letzten Halt der Reise: Sillamäe („Brückenberg“). Um 1800 ein beliebter Kurort, gibt mir diese Stadt erneut das Gefühl, auf Zeitreise zu sein. Sowjetische Plattenbauten, in denen Menschen sich wahrscheinlich nur zum Schlafen aufhalten, alte, baufällige Häuser (niemand scheint Fassaden renovieren zu wollen), und eine pompöse Strandpromenade. Angeberische Treppen führen ans Meer. Außer diesen Treppen und der Promenade gibt es nicht viel zu sehen; Sillamäe ist Industriestadt mit Industriehafen, und war zu Sowjetzeiten abgeriegelt. 85% der Bevölkerung ist Russisch, und ich bin überrascht, als ich in der Nähe jemanden Estnisch sprechen höre – aber das sind vielleicht auch nur Touristen.

Oru Park

Zurück nach Tartu fahre ich entlang des Ufers des Peipussees. An einigen Sommerwochenenden habe ich hier einen Eindruck der idyllischen, menschenleeren Strände und der weitläufigen Wälder bekommen. Es gibt viele schöne Strände in Estland, und man findet immer eine Ecke ganz für sich allein. Die Wälder sind nicht nur reich an Nadelbäumen, Moosen, Farnen und Flechten, sondern auch Beeren, Bären, Wölfen, und bald auch Pilzen. Ida-Virumaa hat deutlich mehr zu bieten, als der Standard-Reiseführer verrät, und ich habe noch viel zu entdecken!

Sillamäe


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