Das Zweite Jahr, Teil 2: Forschung

 


Die Arbeit geht weiter. Statistik. Wissenschaftliche Manuskripte. Ein Artikel ist erst dann fertig, wenn man sich bei seinem Anblick übergeben möchte, sagt mein zweiter Betreuer immer. Es wird noch ein paar Monate und eine Menge Feedback und Diskussionen geben, bis ich an diesem Punkt angelange. Endlich ist es wieder Zeit für meine Schafe. Dieses Jahr weiß ich schon besser, wie der Hase läuft. Meine Freundin Seidi, die Tierarzthelferin, hat sich drei Wochen Zeit genommen, um mir zu helfen. Lilli und Ants, die Besitzer der Farm, helfen mir, wo sie können. Im Gegenzug helfe ich den Kindern bei der Schularbeit, koche Abendessen, heize die Sauna ein, füttere Schafe, und übernehme zweimal in der Woche die Nachtschicht. Wenn ein Schaf in Geburt ist, beobachten wir, ob auch alles gut geht, das ein- oder andere Mal müssen wir Geburtshilfe leisten, und Ants und Lilli bringen uns das geduldig bei. Wenn die frischgebackene Mutter die Lämmer trocken geleckt hat, bringen wir sie in eine Box, wo sie den ersten Tag ungestört mit ihrem Nachwuchs verbringen kann, bevor die junge Familie in die Herde gelassen wird. Alle drei Stunden müssen diese Boxen gefüttert werden, Wassereimer aufgefüllt werden, und wir kontrollieren, ob die Lämmer auch genug Milch bekommen. Wenn nicht, müssen wir nachhelfen – die Mutter fixieren, damit sie das Lamm trinken lässt. Melken und mit der Flasche füttern. Oder sogar Biestmilch vom letzten Jahr auftauen und mit einer Magensonde eingeben. Im schlimmsten Fall startet eine Adoptions-Aktion. Wenn aber alles in Ordnung ist, nehme ich die Tiere in meine Studie auf. Ohrmarken dran, Milchprobe abgemolken, Geburtsgewicht notiert. Über die nächsten Wochen nehme ich dann alle paar Tage Blut ab und einen Enddarmtupfer, aus dem wir später Informationen über die Darmflora und wie sie sich entwickelt bekommen werden. Abends diktieren mir die Kinder meine Daten, damit ich sie in eine Excel Tabelle übertragen kann. Und wenn noch Zeit ist, lesen wir uns gegenseitig vor – ich, um mein Estnisch zu verbessern, der Achtjährige, weil er das laute Vorlesen üben soll.


Es ist viel Arbeit, und anders als im letzten Jahr kommt mein Doktorvater mich nicht zweimal in der Woche besuchen. Bald schon gehen mir die Materialien aus, der Schlafmangel macht sich bemerkbar, und ich habe oft keine Zeit zum Mittagessen. Auch Ablammhelfer gibt es dieses Jahr keine, nur Seidi. Und die ältesten Töchter, die letztes Jahr ausgeholfen haben, sind beide am Gymnasium und haben keine Zeit. Seidi wird vor Erschöpfung krank und ich sitze verzweifelt in meinem kleinen improvisierten Labor und kann mich nicht entscheiden, ob ich die Schafe füttern soll oder meine Blutproben abzentrifugieren. Beides muss sofort passieren. Das Lamm in der Kiste in der Ecke braucht seine Sonde, und ich muss seine Wärmflasche auffüllen. Aber ich kann nicht mehr. Ich brauche Hilfe. Und keine Studenten, die man mir von der Uni schickt, die lernen möchten, wie man Blut von Schafen abnimmt. Das kostet mich so viel Zeit und Geduld, und am Ende sind die Venen zerstochen und das Blut reicht nicht für meine Probe aus.

Nach einer Sauna und einem Sprung in den kühlen Teich fühle ich mich etwas besser. „Bring es mir bei“, bitte ich Ants. „Wie man ohne Assistenz die Blutprobe nimmt. Ich muss es ohne Hilfe schaffen, die Kinder müssen die Boxen füttern, es ist gerade alles zu viel.“ Morgens hatte ich versucht, eine Milchprobe ganz alleine zu nehmen. Die ausgewachsenen Schafe sind schwerer und stärker als ich, und die beliebte Technik, bei der man ich das Schaf zwischen die Beine klemmt, funktioniert mit meinen kurzen Beinen auch nicht. In einem ungünstigen Winkel habe ich versucht, das Schaf gegen die Boxenwand zu pressen und gleichzeitig zu melken. Die Konsequenz war ein schwungvoller Flug in das Metallgitter am anderen Ende der Box und ein schmerzender Arm, den ich den Rest des Tages kaum benutzen konnte. Ein paar Tage später kommt endlich Hilfe aus Tartu. Die Kinder haben ihre Freunde eingeladen und füttern zusammen mit Seidi die Schafe, bevor sie mir helfen, aus der immer grösser werdenden Herde die Lämmer einzusammeln, von denen ich heute Proben brauche. „Soll ich halten?“, fragt Elisabeth.

„Nein, nein, beschrifte du lieber die Probengefäße“, sage ich, schnappe mir ein zwei Wochen altes Lamm, fixiere es mit den Knien am Boden, lege seinen Kopf mit einer Hand zur Seite und staue gleichzeitig die Vene, während ich mit der anderen Hand gekonnt zusteche und das Probengefäß voll Blut laufen lasse. Stolz grinsend reiche ich meiner Kollegin das Röhrchen. Ich bin zur Expertin geworden.


Wie im letzten Jahr war ich in dicken Stiefeln und Winterjacke auf dem Hof angekommen, und sechs Wochen später nehmen wir die letzten Proben auf der Weide, in T-Shirts, mit Sonnencreme im Gesicht und in den Gummistiefeln schwitzenden Füssen. Wir lassen die Herde laufen, schalten die Zentrifuge ein letztes Mal ein, und dann ist endlich Zeit für eine kleine Abschlussfeier. Die Ablammzeit ist vorbei und meine Studie für dieses Jahr hier beendet. Es gibt Sauna, Kuchen, Rhabarbersekt, und ich spiele ein bisschen auf meiner Karmoška, während Ants im Teich eine Ente jagt, die aus dem Gehege ausgebrochen ist.

Zurück in Tartu erwarten mich gute Neuigkeiten: mein erster wissenschaftlicher Artikel ist endlich erschienen, und der zweite wurde von der Fachzeitschrift angenommen, sodass dessen Veröffentlichung auch nur noch eine Frage der Zeit ist. Jetzt bin ich eine echte Wissenschaftlerin. Eine Kollegin verteidigt erfolgreich ihre Doktorarbeit und wir feiern mit ihr. Sogar Toomas, der nie bei so etwas mitmacht, lässt sich zu einem Kneipenbesuch am Flussufer überreden.

Das akademische Jahr geht zu Ende, auch wenn es in diesem Jahr nicht danach aussieht, als bekäme ich einen echten Sommerurlaub. Vorlesungen sind vorzubereiten, vor der Hitzewelle im Juni verstecke ich mich mit meinem Lämmerblut im Labor, das über eine Klimaanlage verfügt, Manuskripte müssen überarbeitet werden, Bewerbungen für Konferenzen müssen fertig werden.


Kurz vor Schluss bekomme ich einen Platz in einer Kommission. Mir wird eine Masterarbeit zur Benotung zugeteilt, und zwei Tage lang höre ich den Fast-Tierärzten bei ihren Verteidigungen zu, stelle neugierige und auch kritische Fragen und diskutiere auf Estnisch mit den anderen Kommissionsmitgliedern, welche Note auf dem Abschlusszeugnis stehen soll. Anders als auf den Konferenzen traue ich mich hier wirklich, Fragen zu stellen, und die Themen sind weit gestreut. Anästhesie bei orthopädischen Operationen an Hunden. Biosicherheit in finnischen Milchbetrieben. Endokrinologische Erkrankungen von Kleintieren. Mücken als Vektoren für Afrikanische Schweinepest. „Wenn ich darf, würde ich nächstes Jahr gerne wieder in der Kommission sitzen“, sage ich am Ende. Toomas ist glücklich – Freiwillige finden sich anscheinend nicht so leicht für diese Aufgabe. Bleibt noch meine eigene Bewertung. Mein zweites Promotionsjahr ist vorbei, bin ich noch im Zeitplan, bin ich mein Stipendium wert, produziere ich Ergebnisse und erfülle ich die Vorgaben?

„Wie Sie sehen, sind zwei Artikel erschienen, der dritte bereit zur Einsendung und für den vierten bin ich schon mitten in der statistischen Analyse“, fasse ich zusammen – in fast akzentfreiem Estnisch. „Für das nächste Jahr habe ich zwei Konferenzen geplant und werde eine Studentin bei ihrer Masterarbeit betreuen.“ Darauf bin ich besonders stolz. Die mich beurteilenden Professoren scheinen mehr davon beeindruckt, dass ich meinen Vortrag auf Estnisch gehalten habe. Aber die Hauptsache ist, dass kurze Zeit später in meinem Studentenprofil steht: „Evaluierung 2021/22 – positiv.“ Ich kann beruhigt zurück an meinen Arbeitsplatz – mal im Büro und mal im Labor – und den Sommer über in diesem Limbo zwischen zweitem und drittem Jahr weiterarbeiten. Und vielleicht, da ich ja offiziell im Urlaub bin, sogar mit reduzierten Arbeitszeiten.



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