Life in Estonia, Teil 15: Viljandi Folk

 Mit manchen Dingen kann man gut angeben, weil man stolz auf das sein darf, was man erreicht hat. Mit anderen Dingen lässt sich nicht so leicht angeben, weil die Leute entweder nichts Besonderes daran finden, oder überhaupt keine Ahnung haben, wovon man spricht…

Ich genieße die Morgensonne zwischen dem See und der Burgruine von Viljandi

Ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Viljandi Folk Music Festival. Es war nicht mein erster Besuch Viljandis, aber die Stadt ist während des Festivals ein komplett anderer Ort als im Rest des Jahres. Man kann sagen, das Festival hat mehr Besucher (über 20.000) als die Stadt Einwohner (ungefähr 17.000).

Ich erinnere mich an die friedliche, familiäre Atmosphäre dort, wie ich zum ersten Mal per Anhalter fuhr, und an die vielen berühmten Esten. Ich erinnere mich an den Auftritt von Silver Sepp. Diesen Musiker kannte ich aus den Büchern von Justin Petrone . Zwei befreundete Berühmtheiten. Die Musik von Silver Sepp ist nicht gerade Pop, und ich saß damals in dem Konzert und fragte mich, was vor sich ging. Ein Jahr später stand ich zufällig wieder vor Silvers Bühne und fand seine Werke gar nicht schlecht. Es fühlte sich ein bisschen an, als wäre der Teil meines Gehirns, der Musik verarbeitet, aufgewacht, nur, weil ich mich in Estland befand.  Dieses Jahr stand Silver Sepp nicht auf dem Programm des Festivals, aber ich sah ihn trotzdem – er war ein Besucher, wie wir auch. Zusammen saß er mit Justin Petrone auf der Wiese, Musik im Hintergrund. Später kam er bei uns vorbei, um zu seiner Verwandten Hallo zu sagen, mit der ich mich gerade unterhielt. In den Jahren seit meinem letzten Besuch hier hat sich nicht nur mein Musikgeschmack entwickelt, sondern ich habe auch schon an einem Tisch mit Silver Sepp zu Abend gegessen. Nach einem langen Tag im Stall, nachdem ich meine Laborarbeit beendet hatte, den Kindern mit den Schulaufgaben geholfen hatte, und verzweifelt versucht hatte, etwas Ordnung in die Küche zu bringen, konnte ich mich endlich zum Essen hinsetzen – und merkte, dass deshalb Silver Sepp keinen Stuhl mehr abbekam.

ETNO und Kinder-ETNO führen Songs vor, die sie sich gegenseitig in einem Musiklager beigebracht haben

So ist das mit den berühmten Esten. Jeder kennt sie, aber jeder kennt sie auch persönlich.

Auf meinem ersten Viljandi Folk saß Villu Talsi in der Reihe hinter mir, um einer Newcomerband zuzuhören. Aufgeregt schrieb ich meiner Freundin in Deutschland eine SMS. „Wer ist Villu Talsi, muss man den kennen?“, schrieb sie zurück.

Abends erzählte ich dann einer estnischen Bekanntschaft von dem Erlebnis. „Oh, Villu ist schon hier?“, fragte sie. „Ich hab ihn vor ein paar Tagen in der Sauna getroffen.“

Naja, ich habe schon mal Lauri Õunapuu von Metsatöll in der Sauna getroffen. Metsatöll sind eine schon lang bestehende bekannte Heavy Metal Band, falls ihr das nicht wusstet.

Estland ist eben ein so kleines Land, dass fast alle einander kennen, wenn vielleicht auch nur durch gemeinsame Bekannte. Jemand wie Jalmar Vabarna kann jemanden wie mich auf einem Curly Strings Konzert freundlich grüßen, weil sowohl er und seine Frau als auch meine Freunde und ich dort oft genug auftauchen. Aber er ist auch ein Rockstar. Ein Rockstar mit Sinn für Humor. Und natürlich auch ein Charakter in Petrones Büchern.

Die Folkrock-Band Zetod habe ich auf einem kleinen Konzert in Tartu für mich entdeckt und wurde schnell zum Fan. Zetod singen in ihrer Muttersprache Seto, was die wenigsten Esten verstehen, aber was noch lange nicht bedeutet, dass nicht das halbe Land die Lieder mitsingen kann. Ihr Konzert ist der Höhepunkt des Folk Festials, Tausende haben sich vor der Hauptbühne auf dem Kirschhügel versammelt, die Band braucht keine lange Vorstellung. Das Konzert beginnt. Allerdings sind die Musiker nicht auf der Bühne. Einen ganzen Song lang guckt das Publikum auf die leere Bühne. Das Jubeln ist umso lauter, als Jalmar Vabarna, Matis Leima und die anderen Bandmitglieder endlich hervorspringen. Wir hüpfen, tanzen, singen laut mit. Diese Jungs waren sechzehn, als sie die Band gegründet haben, achtzehn, als ihr erstes Album erschien, und die Lieder von damals sind bis heute Hits. Zwischen den Songs schwelgt Jalmar in Erinnerungen. Wie er zu seiner ersten Karmoška kam und später Matis inspirierte, das Instrument auch zu lernen. Sie sind jetzt in den Dreißigern, keine Kinder mehr, sondern selbst Väter. Und Stars. Das hier ist wahrscheinlich das grösste Konzert,auf dem ich bisher war. Und es ist fantastisch. Das Publikum tobt. Und dann lässt Jalmar uns die Melodie pfeifen. Es wird leise auf dem Kirschhügel, ein Teil der Masse pfeift. Und pfeift. Jalmar hat den Arm erhoben, um uns anzufeuern, und lässt ihn ganz langsam sinken, während das Pfeifen immer leiser wird und schließlich erstirbt. Erst, als alles still ist und die Besucher leicht verwirrt sind, spielt die Band weiter. Ja, sie haben ihren Spaß mit uns.

Die Hauptbühne. Foto: Henri-Kristjan Kirsip/Viljandi Folk Music Festival

Am nächsten Tag quetsche ich mich mit meinem eigenen Instrument in ein kleines Zelt. Zusammen mit fünfzehn anderen Leuten lerne ich ein kleines Lied von Matis Leima, Violinist, Karmoška-Spieler und zweitem Frontmann von Zetod. Wenn er nicht gerade von tausenden von Fans bejubelt wird, ist er Musiklehrer. Eine seiner Karmoškaschülerinnen ist inzwischen meine Lehrerin. Er hat ein Lehrbuch zu diesem Instrument verfasst – das einzige. Als wir uns nach dem Workshop bei ihm bedanken, entschuldigt er sich, er muss jetzt zur „Grünen Bühne“ (die Bühne für Newcomer und Schülerbands), wo er mit seinen Schülern einen kleinen Auftritt hat. Wir Workshop-Teilnehmer haben diese Stunde nicht irgendwo gewonnen, wir mussten auch nicht dafür bezahlen. Wir sind einfach diejenigen, die gekommen sind. Gestern Abend war Matis Leima ein Superstar. Heute ist er Musiklehrer.

 Das Festival ist gewachsen, seit ich vor fünf Jahren zuletzt hier war. Damals wurde es gegen Mitternacht ruhig. Kleine Gruppen junger Erwachsener mit ihren Instrumenten waren noch zu finden, spielten und tanzten Polka, aber die meisten waren auf dem Heimweg. Heute ist es tagsüber noch genauso familiär wie damals, Kinder spielen für Kleingeld am Wegrand Musik, Besucher schlendern mit Eis oder Sanddornsaft in der Hand von einer Bühne zur nächsten, liegen auf dem Gras herum. Doch während die Sonne sich dem Horizont nähert, füllt sich das Festivalgelände. Sicherheitspersonal läuft herum und kontrolliert nicht nur die Tickets, sondern auch den Inhalt von Taschen und Rucksäcken. Es ist laut, aber immer noch tanzen Fünfjährige in den vorderen Reihen, Teenager in großen Gruppen, auf den Tribünen sitzen die Grauhaarigen, irgendwo dazwischen wippt meine Generation im Takt mit. Das Viljandi Folk Music Festival ist für alle. Aber nachts ist es eben nicht mehr dasselbe gemütliche Familientreffen wie tagsüber, sondern ein volles, lautes Festival. Konzerte beginnen noch um ein Uhr nachts, die offiziellen Afterparties dauern bis fünf Uhr morgens.

Ich bin auch gewachsen in den letzten fünf Jahren. Damals konnte ich kaum Estnisch, musste jede Unterhaltung mit „Sprechen Sie auch Englisch?“ beginnen. Eine Freundin hatte mir die Band Naised Köögis („Frauen in der Küche“) empfohlen, aber die Liedtexte waren zu bedeutungsschwer, als dass ich dem Konzert mit meinen mangelnden Sprachkenntnissen besonders viel entnehmen konnte. Dieses Mal verstehe ich alles, was vor sich geht – Ankündigungen, Karmoška-Workshops, Gesprächsfetzen um mich herum, Liedtexte. Außer von Zetod, aber da bin ich ja nicht allein. Nach einem kurzen Gespräch mit der Mitarbeiterin, die mein Ticket gegen das Festival-Armband eintauscht und mir erklärt, wie die Instrumenten-Aufbewahrung funktioniert, frage ich nach dem Programmheftchen. Bezahle und nehme eins vom Stapel. „Oh, warte“, sagt sie, „das ist bestimmt das Englischsprachige. Hier, bitte, die estnische Version.“ Wie so ein kleiner Kommentar einen doch stolz machen kann. So etwas passiert mir inzwischen öfter. Mache eine neue Bekanntschaft, und eine Viertelstunde später blinzelt sie mich verwirrt an, als ich sage „Das habe ich als Kind nicht gelernt, ich komme ja nicht aus Estland.“ Oder ein anderer Bekannter, mit dem ich mich über den Lauf mehrerer Wochen immer wieder kurz unterhalte, bevor ich zum ersten Mal Deutschland erwähne. „Was meinst du damit, wir in Deutschland?“, unterbricht er mich. „Ich bin aus Deutschland.“

„Oh. Ganz im Ernst, ich hätte nicht gedacht, dass du Ausländerin bist.“

Viljandi Folk hat sich verändert, und ich mich auch. Aber an die berühmten Leute werde ich mich vielleicht nie gewöhnen.


Als ich vom Festival nach Hause komme, erzähle ich aufgeregt von den Konzerten, dass ich lieber im Auto geschlafen habe, statt 30€ für den Zeltplatz zu bezahlen, und dass ich nun doch Petrones neues Buch „Mein Viljandi“ gekauft habe. Morgens saß ich auf dem Hügel vor der Burgruine, Musik im Hintergrund, in der Sonne und las. Auf dem Weg zum nächsten Konzert lief der Autor an mir vorbei, ich bat ihn um ein Autogramm im Buch und wir unterhielten uns kurz, berichte ich. Mein Freund unterbricht mich in der Geschichte: „Wer ist Justin Petrone?“

Links:

Silver Sepp

Zetod

Black Bread Gone Mad

Justin Petrones Blog North!

Justin Petrones "My Viljandi"

Kommentare

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