Puhkeruumi vestlused: Pausenraumgespräche - Life in Estonia, Teil 4


Um nicht den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen, stehe ich etwa einmal in der Stunde auf, gehe in den anderen Gebäudeteil, die Treppe runter und mache mir in der Personalküche eine neue Tasse Tee. Vormittags ist ganz oft Külli da, deren Büro sich direkt gegenüber befindet. Tarmo und seine Schreibtischnachbarin holen sich fast immer gegen zehn neuen Kaffee.

Wenn ich auf Tarmo treffe, fragt er natürlich kurz, wie es mit dem Statistikprogramm voran geht. „Naja, die Regressionsmodelle klappen schon ganz gut, aber ich wollte gerne so eine Kaplan-Meyer-Kurve erstellen.“

„Da gibt es sicher eine ganz einfache Möglichkeit. Es gibt für alles eine einfache Methode in STATA! Ich muss mal nachgucken, ob ich das irgendwo finde…“

„Du kannst ja auch mal MedCalc probieren, es gibt eine kostenlose Testversion und damit kann man die Kurven ganz leicht erstellen“, mischt sich Professor Valdmann ein, während er seine Tasse in den Kaffeeautomaten schiebt. „Und wenn du Fragen zu dem Programm hast, melde dich!“

Bei ihm hatte ich vor vier Jahren drei Vorlesungsstunden zum Thema Endokrinologie (Hormone…), und ich bin sicher, dass er sich nicht mehr an mich erinnert. Aber wie alle hier ist er unglaublich lieb.

Mittags ist natürlich viel los, und nachmittags begegne ich einmal Dagni und Kaari, die bei uns auf dem Flur arbeiten. „Wir haben auch einen Wasserkocher, den kannst du doch mitbenutzen!“, sagt Dagni.

„Das ist lieb, aber ich möchte gern immer mal wieder ein paar Schritte gehen.“

Aber meistens, wenn ich komme, ist der Raum entweder leer, oder es sitzt da der Professor, der offenbar genau weiß, wer ich bin, aber dessen Namen und Fachrichtung ich nicht kenne. Er ist immer gesprächig. Woher genau ich komme, will er wissen,
wie die Corona-Situation in Deutschland ist, wie lange ich schon Estnisch lerne. Meistens formuliert er seine Sätze um, wenn ich ihn nicht verstehe, nur, wenn es zu kompliziert wird, wechseln wir uns Englische.

Natürlich redet er mit mir auch über das Loch in der MS Estonia… und manchmal reden wir über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der estnischen und deutschen Sprache. „Am schwierigsten finde ich diese Regel mit dem zweiten und dritten Fall… je nachdem, ob ich das ganze Buch gelesen habe oder es momentan lese…da machen wir im Deutschen keine Unterscheidung im Fall“, erkläre ich. „Aber Sprichwörter und Redewendungen kann man meistens ganz wörtlich übersetzen. Neulich habe ich auf einem Schild gelesen: Vana arm ei roosteta. Das haben wir auch: Alte Liebe rostet nicht. Ganz genau so.“

Der grauhaarige Professor schlägt die Beine übereinander und nippt an seinem Kaffee, während ich meinen Tee aufgieße. „Ja, ihr Deutschen habt uns Einiges mitgebracht“, bemerkt er. „Das war doch bei euch auch so, dass es einen Gutsherren gab und die Bauern auf den Höfen drum herum waren seine Sklaven?“

Ich nicke. „So wie hier. Deutscher Gutsherr, estnische Leibeigene.“    Ich senke den Kopf, er hat einen wunden Punkt getroffen. Es ist ein bisschen wie mit der NS-Zeit – wir bekommen immer wieder gesagt, dass wir verhindern müssen, dass so etwas noch einmal passiert. Die Vergangenheit ist nicht unsere Schuld, aber die Zukunft liegt in unserer Verantwortung. Trotzdem habe ich aus der Schule mitgenommen: Du bist Deutsche, dafür musst du dich immer schuldig fühlen. Genauso ist es mit den Deutschbalten. Das ist ewig her, ich war nicht dabei…und doch habe ich immer ein mulmiges Gefühl, wenn das Thema zur Sprache kommt. Jahrhundertelang waren Deutsche die herrschende Schicht in Estland.


Die Geschichte Estlands ist bewegt, von Unterdrückung geprägt und definitiv zu ereignisreich für einen Blogpost, aber hier ein kleiner Überblick:

Ab 1346 gehörte das Land dem Deutschen Orden, also Kreuzrittern. Mehrere estnische Städte gehörten zu dem Zeitpunkt bereits lange der Hanse an, in der Tallinner Unterstadt herrschte lübisches Stadtrecht. Die estnische Bevölkerung unterstand den deutschen (und einigen wenigen schwedischen) Gutsherren als Leibeigene. Im Laufe der Jahrhunderte lag Estland (beziehungsweise entweder die Nord- oder die Südhälfte) unter schwedischer, polnischer, dänischer und deutscher Herrschaft. Die schwedische Zeit von 1561 bis 1710 gilt als goldenes Zeitalter, da die estnische Bevölkerung gefördert wurde (obwohl sie immer noch kaum Rechte hatte). Während des Großen Nordischen Krieges, genauer gesagt 1710 fiel Estland dann unter russische Herrschaft, war also nun Teil des Zarenreichs. Die Deutschen verloren keinerlei Rechte. 1816/1819 (Nord- bzw. Südestland, damals Teil Livlands) wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, doch das Leben der Bauern wurde dadurch nicht besser. Erst in den 1860er Jahren wurden Gutshäuser von Deutschen auch an Esten verkauft.


Im 19. Jahrhundert fand das statt, was man heute als Nationales Erwachen bezeichnet: Man begann sich mit der estnischen Kultur und Sprache wissenschaftlich zu beschäftigen, und erste literarische Texte erschienen auf Estnisch. Bisher war dies die Bauernsprache gewesen; an der Universität und in gebildeten Kreisen sprach man deutsch.

1918 wurde Estland zum ersten Mal unabhängig und baute eine eigene Republik auf. Die beiden Landesteile wurden vereint. Die Zeit der Republik dauerte nicht lange an – im zweiten Weltkrieg wechselten sich Russland und Deutschland mit der Besetzung ab. 1939 rief Hitler die Deutschbalten „heim ins Reich“ und die meisten siedelten nach Polen und später nach Deutschland um.

Zu Beginn des Krieges hatte man auf die Deutschen gehofft, die Estland von der sowjetischen Besetzung befreien würden, doch von 1941 bis 1944 besetzte die deutsche Armee selbst das Land.

„Mein Vater hat in der deutschen und in der sowjetischen Armee gedient, was soll ich sagen“, erzählt der Professor, dessen Namen ich nicht weiß.

Ab 1944 war Estland dann die ESSR (Estnische Sozialistische Sowjetrepublik). Zum ersten Mal waren nicht Deutsche die herrschende Schicht, sondern Russen. Erst 1991 konnte die Estnische Republik (Eesti Vabariik) ihre Unabhängigkeit wiedererlangen. Innerhalb weniger Jahre schwang sich das kleine Volk zu einer weit entwickelten Nation auf, der in Sachen digitales Leben niemand etwas vormachen kann. Nicht umsonst wird der kleine baltische Staat oft auch als Silicon Valley Europas bezeichnet!

Doch das Trauma sitzt tief, und die Spuren, die deutsche und russische Herrschaft hinterlassen haben, sind sehr verschieden. Deutsche, das sind in den Augen vieler Esten Wissenschaftler, die die Forschung und Bildung gefördert haben und dabei halfen, die estnische Sprache zur Amtssprache zu machen. Die Russen hingegen ließen Tausende deportieren, foltern und töten. Von den Deutschen sind herrschaftliche Gutshäuser, Straßennamen und Statuen geblieben, von den Russen eine beklemmende Angst und sowjetische Plattenbauten.

Ich versuche, zu erklären, dass ich gar nicht stolz darauf bin, als Deutsche in Estland zu sein, aber weder der Professor noch meine Freunde können das verstehen.

„Was uns die Russen angetan haben, ist doch noch viel schlimmer, und von denen fühlt sich heute niemand schlecht deswegen.“

Und während die Deutschen als Studenten oder Dienstleister nach Estland kommen, sind viele Russen hier geboren. Ihr Verhältnis zu Estland ist ebenso kompliziert wie das der Esten zu ihnen. Sie leben meist in eigenen Vierteln, gehen auf russischsprachige Schulen und haben das Gefühl, nirgendwo so richtig dazu zu gehören. Sind sie nun Russen oder Esten? Viele Russen leben ihr ganzes Leben in Tallinn oder Narva und lernen nie, estnisch zu sprechen. Die Russen als Nation, hat mir ein Freund erklärt, sind eben stolz, sie sehen nicht, dass etwas schief gelaufen ist, sehen sich sogar selbst oft als Opfer. Die Deutschen als Nation gestehen sich Fehler ein. Und das macht den Unterschied im Umgang der Esten mit den früheren Besetzungsmächten aus.

Der Professor wendet sich wieder der Zeitung zu, ich nehme meinen Teebeutel aus der Tasse und gehe zurück an die Arbeit.


 

Mich fasziniert die estnische Geschichte und das Verhältnis zu Russland enorm, für die Göttinger Uni habe ich daher bereits zu diesem Thema geschrieben:

https://blog.stud.uni-goettingen.de/finnougristik/2020/08/03/das-kind-im-besetzten-land-die-sowjetzeit-in-der-estnischen-literatur/

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