Wie ich zur Wissenschaftlerin wurde - Life in Estonia, Teil 3

 


Es ist schon wieder eine finnische Studentin. Sowieso, frage ich mich, warum sollte jemand auch meinetwegen hier anklopfen. Mit den Student*innen habe ich nichts zu tun, mit Tarmo kommuniziere ich online und Toomas sitzt den halben Tag lang neben mir.

Nachdem ich das Offensichtliche ausgesprochen habe („Toomas ei ole“ – „Er ist nicht da“), fragt die Studentin auf Englisch: „Wann kommt er denn wieder?“

„Normalerweise so um zwölf.“

Selbstverständlich klopft es um fünf nach zwölf erneut, aber der Professor ist noch nicht aufgetaucht. Erst, als die Tür wieder zu ist, fällt mir auf, dass ich mich dafür nicht hätte entschuldigen müssen. Mein Chef kommt meistens erst ins Büro, wenn mein Arbeitstag schon halb um ist. Ich verfolge dann die Vorlesungen mit, die er von hier aus online hält, vertröste die Studis, wenn er sich zwischendurch Kaffee holen geht und unterhalte mich mit ihm, während seine Schäfchen Gruppenarbeiten in virtuellen Räumen machen und ich eigentlich selbst fleißig sein sollte. Alle paar Stunden fällt ihm etwas Neues ein: Haben wir hier drin Platz für einen dritten Schreibtisch? Dann kann die neue Doktorandin auch hier sitzen. Brauche ich noch ein Tablet, um zu Hause digital die Artikel lesen zu können? Was ist mit einer externen Festplatte? Wie spricht man advertisement richtig aus? Denke ich, dass er ein schlechter Lehrer ist? Wie sind eigentlich die Corona-Schutzmaßregeln in Deutschland? Und habe ich das mit der Estonia gehört? (Für diejenigen, die es interessiert, hier die Zeitungsartikel auf Englisch: https://news.postimees.ee/7072894/documentary-crew-finds-big-hole-in-m-s-estonia-ferry-wreck und https://news.postimees.ee/7073877/head-of-expert-committee-coverup-without-end)


Meiner Meinung nach passt der Begriff „Doktorvater“, den die Esten so nicht kennen, sehr gut auf meinen Betreuer. Er erwartet viel, von den Studis und von mir, aber er kümmert sich auch rührend. Als wir bis abends um neun im Labor sitzen und DNA-Proben sortieren, die in Finnland analysiert werden sollen, fährt er mich mit dem Auto nach Hause, weil mein Fahrrad noch kein Licht hat (nicht, dass das etwas ausmachen würde, da Fahrradfahrer hier wie Fußgänger behandelt werden, Autos am Zebrastreifen anhalten, damit ich mit dem Rad rüber kann, man fast immer auf dem Gehsteig fährt und so weiter…Hauptsache, ich habe einen Reflektor!) Wenn ich eine Frage habe, stelle ich sie einfach, wenn ich etwas brauche, bekomme ich es.

Meistens kommen Toomas‘ Ideen ziemlich aus dem Nichts. „Ich hab den Plan, ich hab genug Geld, wir brauchen noch die Analyse-Kits für Zytokine.“

Ich blicke von meinem Statistikprogramm auf.

„Wir wollen noch in Kälberblut IF-ɣ und TNFα messen, aber die Testkits, die wir letztes Mal hatten, waren nicht gut.“

Ich bin mir nicht sicher, was ich darauf antworten soll. Ich weiß ja, dass diese Immun-Mediatoren wichtig sind, damit der Körper die Akute-Phase-Proteine herstellen kann, mit denen ich mich (zumindest zum Teil) beschäftige. Aber jetzt soll ich die auch noch untersuchen? Langsam wird es etwas viel…

„Kannst du mal nachgucken, was so in den aktuellen Studien mit Kälbern oder zumindest Rindern verwendet wurde?“

Das klingt ja ganz einfach, ist aber aufwändige Recherchearbeit. Ich muss in riesigen Datenbanken nach neuen Studien suchen, die diese Zytokine in Rinderblut gemessen haben. Dabei wird einem meistens nur die Zusammenfassung angezeigt, der sogenannte Abstract. Anhand dessen entscheide ich, ob der Artikel tatsächlich interessant ist und suche die vollständige Version. Dann geht es an den „Material und Methoden“ Teil, eben jeden Absatz des Artikels, den die Meisten überspringen. Darin suche ich dann nach der Messmethode für die Zytokine.

Gerade hatte ich beschlossen, langsam Feierabend zu machen. Ich arbeite seit acht Stunden ohne richtige Pause durch.

„Klar, mache ich. Ich schreibe dir dann eine Liste mit den Artikeln und welche Kits die verwendet haben, oder?“

Innerlich seufze ich, aber ich habe bereits beschlossen, heute nur einen kleinen Anfang zu machen.

Kurz darauf dreht er sich schon wieder zu mir um. „Wie machst du das eigentlich mit der Ernährung?“

Wieder ist mir nicht ganz klar, worauf er hinaus will. „Äh…ich esse, wenn ich Hunger habe.“

„Ich meine, weil ich dich nie essen sehe. Und ich bin ja dein Betreuer, also bin ich auch für dein Wohlergehen verantwortlich.“

„Keine Sorge, ich esse genug.“ Meistens ist mein Mittagessen eben schon weg, wenn er hier ankommt.

„Und gesund auch?“

„Ich versuch’s. Ich nehme auch Vitamin D“, füge ich schnell hinzu, denn das ist den Esten eine Herzensangelegenheit. Und Recht haben sie, im Winter bekommt man schließlich so gut wie kein Sonnenlicht.

„Und Bewegung bekommst du ja auch, wenn du spazieren gehst?“

„Ja, auf jeden Fall. Ich gehe auch zum Yoga und zum Klettern.“

Er ist zufrieden, aber ich nehme mir trotzdem vor, morgen eine Karotte auszupacken, wenn er gerade zu mir herüber guckt.


Beim Yoga muss dann die Wissenschaftlerin in mir kichern, als es heißt: „Und jetzt, wo alle Muskeln entspannt sind, entspannen wir das Nervensystem…“ Hmm… aber wenn man das aktiv könnte, und auch den Parasympathikus entspannen würde, dann müsste ja der Sympathikus aktiv werden und das wäre dann nicht so entspannend, also muss man den Parasympathikus aktivieren…unglückliche Formulierung!


Die Kletterwand ist winzig, in der Sporthalle der Hauptuni versteckt, aber sie hat es in sich. Wenn man wenig Platz hat, muss man die Routen eben schwierig machen. Die Hälfte der Tartuer Kletterer scheinen Russen zu sein, und alle sind richtige Tüftler, die jeden Schritt vorher planen, bevor sie dann geschickt an den sparsam verteilten Griffen hochhuschen. Ich komme mir vor, als hätte ich diesen Sport noch nie zuvor betrieben und lasse mich von den Trainern anfeuern.


Und wenn zwischendurch mal Zeit bleibt, genieße ich natürlich die Herbstsonne. Ich mache kleine Fahrradtouren an den Stadtrand von Tartu, spaziere durch Karlova, nehme an einem Kanuausflug auf dem Ahja-Fluss teil. Und an einem der wunderschönen sternenklaren Abende (ja, in dieser Stadt kann man die Sterne sehen!) macht ein alter Freund einen kleinen Motorradausflug mit mir.

Annelinn ist ein großes Stadtviertel, das fast ausschließlich aus Plattenbauten aus den Siebzigern besteht und in dem fast 30 Prozent aller Einwohner Tartus leben. Hinter den orange-grauen, düsteren Gebäuden wird der Mond von den großen Gewächshäusern Tartus ebenfalls orange angeleuchtet. Es ist auf eine seltsame Art romantisch. Die estnischen Plattenbauten üben eine ganz spezielle Faszination auf mich aus, sodass ich sogar mal ein Referat darüber gehalten habe.

Paneelelamu - Plattenbauten (in Tallinn)

Der Herbst nimmt seinen Lauf, während ich durch die Aufs und Abs meines neuen Wissenschaftlerinnenlebens treibe, die Kastanien vor unserem Haus fallen endlich herunter, die Wege sind orange von Blättern und nachts wird es schon richtig kühl. 


 

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