Von Rindern, Katzen und Präsidenten

Wie gestern Morgen schon, hüpfen die Frühaufsteher unter den Internationals mit Priit um die Turnhalle – es nennt sich morning exercise und ist eher lustig als anstrengend oder effektiv. Naja, immerhin werden wir wach, das stimmt schon.
Zum Frühstück sind wir schon ein paar Leute mehr und um zehn sind dann tatsächlich die Meisten da, als wir nach Studienfach in Gruppen aufgeteilt werden. Für uns Tiermediziner geht es in dem kleinen roten Bus, mit dem man zu den Übungen auf der Unifarm fährt, in die Gegend um Kambja, 20 Kilometer südlich von Tartu. Dass wir im Süden Estlands sind, macht sich hier schon deutlicher bemerkbar als in der Stadt: sanfte Hügel, Scheunen und Ställe mit typischen Lehmwänden.


Wir besuchen den Hof von Olev Kirs, der als Erster schottische Hochlandrinder nach Estland gebracht hat. Naja, zuerst waren es drei dänische, weiße Flauschekälber, 2005. Aber Hochlandrinder sind perfekt für Estland geeignet: anspruchslos, nicht zu schwer, überstehen die harten Winter im Freien, sinken nicht in der Sumpflandschaft ein. Später kamen dann die schottischen dazu.

Olev Kirs mit seiner Herde
Inzwischen hat Olev zwei Herden mit drei Bullen und lebt von der Zucht und dem Verkauf der Kälber. Eins von denen muht uns sogar frech an, als wir die Weide betreten, bevor es merkt, dass es den Anschluss verloren hat und seiner Mutter hinterherrennt. Nah lassen sie uns nicht heran, die haarigen Rinder. Einen Stand zum Einfangen der Tiere hat Olev selbst entworfen und gebaut, Ohrmarken muss er den Kälbern zwischen dem zweiten und dritten Lebenstag stechen. Wenn die Mutterkuh schon nicht mehr ganz so aggressiv ist und das Kalb noch nicht wegläuft. Und auch dann nur, wenn das Kalb schläft und der Wind günstig steht.


Die Rinder haben bei ihm etwa 65 Hektar Weide zur Verfügung, mit kleinen Wäldern und mehreren Bächen, von denen einer im Winter nicht zufriert. Auf weiteren 90 Hektar verwendet er das Gras für Heu und hin und wieder macht er ein bisschen Silage für die Bullen. Salzlecksteine gibt er ihnen noch, aber mehr Aufmerksamkeit brauchen und wollen die Tiere nicht, auch einen Stall gibt es nicht. Sie bedienen sich am Heu und Gras, wie es ihnen passt. Theoretisch können sie sogar in Olevs Garten spazieren, an der Stelle ist der Zaun niedrig und ohne Strom, aber das wollen sie gar nicht.

Näher lassen uns die Rinder nicht heran
Die Rinder wirken wild, die Haltung ziemlich artgerecht. Er möchte sie so gut wie möglich behandeln und ökologisch „produzieren“. Alles richtig Bio hier. Das Fleisch sei nichts besonderes, erklärt er, obwohl er es liebt, aber es lässt sich schlecht verkaufen, noch ist es ein Nischenprodukt. Inzwischen gibt es etwa 6000 Hochlandrinder in Estland, und der Zuchtverein setzt sich dafür ein, dass das Fleisch besser verkauft wird. Olev ist aber zufrieden damit, einfach nur zu züchten.
Ein paar Tiere sind schon verschwunden, ob ausgebrochen oder gerissen, weiß er nicht. Es gibt Bären im nahen Wald, ein Rudel Wölfe, das manchmal hier vorbeikommt, Luchse. Olev ist auch Jäger, daher hält er die Raubtiere selbst in Schach.


Und da wir nun mal Tiermedizin studieren, fragen wir auch nach Krankheiten. Eigentlich keine, zwei plötzliche (perakute) Todefälle gab es, aber der Obduktionsbericht sei wenig aufschlussreich gewesen. Daher hofft er, dass es einige von uns in die Rindermedizin zieht – Großtierärzte gibt es nur wenige in der Gegend. Außerdem hatte er ein paar Mal Probleme mit großen Leberegeln. Das muss an den vielen Schnecken in der sumpfigen Gegend liegen. Meistens aber brauchen die Tiere keine menschliche Hilfe, auch um Giftpflanzen muss er sich nicht kümmern, die werden nicht gefressen, so lange genug Gras da ist – und Olev hält so viele Kühe, wie er Weide zur Verfügung hat. Mehr Land, mehr Tiere.
Wir gehen an einem kaputten Zaun vorbei. „Ja, manchmal will der Bulle seine Kühe eben besuchen. Dann springt er hier drüber.“ Später laufen wir durch den Garten des Nachbarn, um zur zweiten Herde zu kommen. Den stört es nicht, er fragt nur fröhlich, wen Olev denn da alles dabeihabe.
Nachdem wir eine Weile die Tiere beobachtet haben, stapfen wir über die Weide wieder zurück.

Auf dem Emajõgi

Abends werden wir auf dem „Party-Hausboot“ auf dem Emajõgi festlich empfangen. Während wir uns mit der Polaroid-Kamera im Gästebuch verewigen und Sekt schlürfen, legt ein Boot an unserem an und die Präsidenten der estnischen Hochschulen gehen an Land. Sie sind schwer beschäftigt mit dem „Gaudeamus“ Sänger- und Tänzerfestival der Studenten. Tanzgruppen und Chöre der baltischen Hochschulen treten dort auf. Es findet alle vier Jahre in einem der baltischen Staaten statt, abwechseln in Kaunas, Litauen, Riga, Lettland und Tartu, Estland. Das heißt, wir werden gerade Zeugen eines Spektakels, das man nur alle zwölf Jahre in Tartu zu sehen und vor allem zu hören bekommt. Noch dazu im Jubiläumsjahr: 100 Jahre Unabhängigkeit! Zu diesem Anlass sind auch noch die Staatsoberhäupter von Litauen, Lettland, Finnland, Polen und Island zu Besuch. Natürlich auch Kersti Kaljulaid, die estnische Präsidentin, das erklärt sich von selbst.


Nach unserem Empfang machen wir uns alle auf den Weg zur Eröffnungszeremonie am „Kassitoome“, dem Krater am Toomemägi. Chöre singen, ein Feuer wird entzündet und Fackeln ausgeteilt. Esten, Letten, Litauer und wir folgen dem Zug der Studenten. Am Emajõgi ist eine Bühne so am Ufer aufgebaut, dass man die Konzerte von der anderen Flussseite anhören und sehen kann. Ich höre mir die Glückwünsche an Estland auf sechs verschiedenen Sprachen an (beim isländischen Präsidenten machen die Untertitel schlapp, aber wir haben alles ja schon in ähnlicher Form gehört...), und gerade, als das Konzert nach den Reden aller anwesenden Präsidenten losgehen soll, höre ich die panische Stimme eines der internationalen PhD-Studenten: „I need a vet student!“
„Lasst mich durch, ich bin Arzt!“, denke ich, und winke ihm zu. „Was ist denn los?“ Offenbar hat seine Frau gerade in Tränen aufgelöst angerufen, ihre Katze sei verletzt nach Hause gekommen. Muss sie zum Notdienst in die Klinik fahren, oder kann es bis morgen warten? Oder geht es sogar so? Ich willige ein, mir die Katze anzugucken und zu entscheiden, ob sie sofort oder erst am nächsten Tag zum Tierarzt müssen. Ich kenne ja selbst, wie nervig es sein kann, wenn Tiere mit Lappalien mitten in der Nacht in der Klinik auftauchen. Als wir am Haus ankommen, ist es ungefähr Mitternacht und dämmrig. Wir befinden uns in einem modernen Bungalow, der so gar nicht nach Estland passt, zehn Kilometer außerhalb Tartus im „Ülenurme vald“.Ich gucke mir die Katze an: Auge zugeschwollen, Vorderbein gebrochen. Atemfrequenz stark erhöht.
„Sie hat große Schmerzen. Selbst wenn das am Auge nur äußerlich ist, was ich jetzt nicht beurteilen kann, ohne Schmerzmittel und Frakturversorgung könnt ihr sie nicht lassen.“
„Können wir unsere Tabletten geben?“
„Auf keinen Fall! Aspirin ist sehr gefährlich für Katzen!“
Bevor wir mit Sack und Pack und schlafendem Baby zur Maaülikool Klinik fahren, halten die jungen Eltern noch Ausschau nach der zweiten Katze, die heute Abend nicht nach Hause gekommen ist. Ob wir auf den Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang zufahren, kann ich nicht sagen. Eine halbe Stunde später, wir haben die Leute überholt, die vom Gaudeamus nach Hause gehen, stehe ich wieder im Behandlungsraum der „Väikeloomakliinik“ wie vor knapp zwei Jahren. Ich hatte Recht, der Humerus ist gebrochen, das Auge bedarf einer genaueren Untersuchung nach Schmerztherapie. Die Tierärztin entscheidet sich für Meloxicam und Buprenorphin und ich atme auf – genau das habe ich dem Besitzer auch gesagt.
Am nächsten Morgen hat er mir bereits geschrieben, dass die Fraktur chirurgisch versorgt werden muss, und die Tierärztin hat mir sogar die Röntgenbilder per Mail geschickt!
Zwar habe ich das Konzert verpasst, aber hey, ich hatte meinen Moment. Lasst mich durch, ich bin fast Tierarzt!


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