Zwischen Holzstapeln und Internet - ist Estland eigentlich reich?


Ich möchte noch über eine andere Seite Estlands schreiben, von der ihr hier bisher wenig gehört habt. 
 
Die Melonen-Straße in Supilinn, mitten in Tartu
Nachdem der niedersächsische Minister für Bildung und Wissenschaft Estland als Vorbild im Bereich Digitalisierung nannte, war ich schon ziemlich stolz. Manchmal fühle ich mich ziemlich estnisch, zum Beispiel, wenn ich einen Vorrat an Brot kaufe, um es mit nach Deutschland zu nehmen. „A very Estonian thing to do!“, stimmen mir meine Bekannten in Tartu zu. 

Deutschland sei ein digitales Entwicklungsland, erklärte der Minister, wir müssten da nur mal Estland gucken. Er hofft, zumindest in Niedersachen mit 11 Millionen etwas ausrichten zu können, aber auch dann sind wir noch weit hinterher. Aber warum ist das so? Hat Estland es so viel leichter?

Eingang ins Estnische Nationalmuseum.  Hier ist unter Anderem der Stuhl ausgestellt, in dem Skype erfunden wurde. Quelle: erm.ee
Die neuere Entwicklung dieses kleinen Landes begann erst 1991, als es die Unabhängigkeit wiedererlangte und nicht länger Teil der Sowjetunion war. Das Erbe der Sowjetunion ist noch deutlich spürbar. Auf der einen Seite ist da ist die Angst, dass wieder jemand kommt und alles zerstört. Auf der anderen Seite sind da die günstigen öffentlichen Verkehrsmittel, und die Regionalbusse sollen sogar noch dieses Jahr komplett kostenlos werden (aber warum das eigentlich gar keiner will, ist ein anderes Thema), der „talgud“, wenn Nachbarn und Freunde alle zusammenhelfen, zur Ernte, beim Umzug, Renovieren… Und natürlich auch ein bisschen Sowjet-Nostalgie. Manches gibt es ganz selbstverständlich für alle – zum Beispiel WLAN. Und Politik passiert hier einfach schneller, die 1,3 Millionen Einwohner sind noch nicht so politikverdrossen wie wir Deutschen.
Aber Estland ist nicht reich. Korruption ist allgegenwärtig. Und die kostenlosen Busse werden den Menschen auf dem Land nicht helfen, denn sie fahren mancherorts nur ein- oder zweimal täglich und man braucht ohnehin ein Auto, um zur Arbeit und zum nächsten Supermarkt zu kommen.
Deshalb möchte ich euch von diesen Häusern auf dem Land erzählen, an denen die Bewohner seit zwanzig Jahren renovieren. Die keine Dusche haben, nur eine Sauna, eine Toilette in einem kleinen Häuschen im Garten, und einen Brunnen für Trinkwasser. Ich möchte von den alten Häusern erzählen, auf dem Land und in der Stadt, in Tartu zum Beispiel in Supilinn und in Karlova, die keine Zentralheizung haben, sondern einen Ofen, der mit Holz gefüttert werden möchte. Von den arbeitslosen Alkoholikern und von Sowjet-Blockbauten.
Ich bin ja sowieso kein Mensch, der wenig isst, aber im Vergleich mit meinen estnischen Freunden fällt es besonders auf. „Wir brauchen ja nicht viel, wir kennen es aus Sowjetzeiten nicht anders“, sagen sie dann. Natürlich ist es als Scherz gemeint, aber aus epigenetischer Sicht haben sie wahrscheinlich Recht.
 
Sowjet-Blockbauten in Narva
 Als Madis all seine Sachen in Schachteln, Kisten und Müllsäcke gepackt hat, um umzuziehen, steht er vor dem Haufen und wundert sich, wie viel er besitzt. Ich schäme mich ein bisschen, ich habe so viel mehr. Dreimal müssen wir mit dem Auto zwischen der alten und der neuen Wohnung hin und her fahren: einmal für die Sachen, einmal fürs Bett, einmal für die Waschmaschine. Das Bett nimmt er auch nur mit, weil es sein Vater gebaut hat. Eigentlich bleiben Lampen, Möbel, und auch mal Putzmittel, ein paar Lebensmittel, Geschirr und Besteck in den Mietwohnungen. Als ich ihm sage, wie ungewöhnlich mir das vorkommt, fragt er: „Aber die Türen lasst ihr schon drin, oder?“
Die alte Wohnung ist in einem zehnstöckigen Hochhaus aus Sowjetzeiten. Die Jungs in der WG haben sich nie die Mühe gemacht, die Tapete mit den LKWs und den Kinderteppich in einem der Zimmer zu überkleben. Dusche und Toilette sind klassischerweise in zwei benachbarten Kammern untergebracht, Waschbecken gibt es nur ein einziges, in der Küche. Im Schrank neben den Biergläsern stehen Zahnbürsten und Rasierer.
 
Zentralheizung gibt es hier keine
In der neuen Wohnung sind Dusche und Klo in einem Raum untergebracht. Es ist sein eigenes Badezimmer, was in vielen Stadtvierteln keine Selbstverständlichkeit ist. Waschbecken gibt es aber auch hier nur eines in der Küche. Obwohl es draußen zwanzig Grad hat, ist es ziemlich kalt. Der Ofen ist schon lange nicht mehr beheizt worden. Holz hat Madis aber schon gesammelt. „Diese Tapeten will ich überkleben, die finde ich ganz furchtbar; im Herbst habe ich vielleicht Zeit dafür. Und dann will ich diesen Schrank loswerden, den brauche ich ja nicht. Und ist die Couch nicht hässlich?“ Aber bequem, das ist ja das, was zählt.
In seinem Elternhaus gibt es in fast jedem Zimmer einen Ofen. Sein jüngster Bruder ist inzwischen in der zweiten Klasse und teilt sich das Zimmer mit den Eltern. Zwei der Geschwister haben eigene Zimmer, alle anderen schlafen im Wohnzimmer. Seit ungefähr fünfzehn Jahren sind sie mit dem Haus beschäftigt. Die Außenwände müssen inzwischen wieder neu gestrichen werden, dabei ist drinnen noch nicht alles ganz fertig. Aber solche Bauarbeiten passieren nebenher. Schließlich sind da Arbeit, ein großer Garten, Klavierspiel,… Arm ist die Familie aber nicht. Sie fahren jedes Jahr in den Urlaub, die Kinder haben Handys und Tablets, der Unterschied zu einer deutschen Mittelstand-Familie ist nicht groß. Abgesehen davon, dass wir den Bus um zehn nach sechs zurück nach Tartu unbedingt erwischen müssen, denn es ist der einzige, der die Strecke am Wochenende fährt.

Ja, die Busse. „Was hilft es mir, wenn der Bus bald statt 3,50€ nichts mehr kostet, wenn es immer noch zweieinhalb Stunden dauert und er nur ein- oder zweimal täglich fährt?“, erwidert Madis auf meine Frage, warum der Plan der unbeliebter werdenden Regierungspartei, die Regionalbusse kostenlos zu machen, so schlecht ankommt. In den ländlichen Gebieten gibt es sie noch, die Tante-Emma-Läden auf Rädern, die hin und wieder Grundnahrungsmittel, Streichhölzer und Schuhcreme in die entlegenen Dörfer bringen.

Natürlich muss ich auch noch mit ein paar Zahlen um mich werfen – los geht’s: 
In Deutschland haben 88% der Einwohner Internetzugang. Estland ist zu 99% mit WLAN ausgestattet, einen Internetzugang laut Gesetz hat man hier seit 2002. Die Staatsverschuldung Estlands ist mit 9,5 die geringste in der EU (Vergleich Deutschland: 68,3%) und die Regierung plant weit im Voraus – die Tallinn-Tartu-Landstraße soll in den nächsten zehn Jahren zur Autobahn ausgebaut werden.

 

Pro-Kopf-BIP im EU-Vergleich

In Estland sind 6,5% arbeitslos, 2010 waren es noch 16,7%. (In Deutschland sind es aktuell 3,5%).
Es gibt einen monatlichen Mindestlohn in Estland: 500€ für einen Vollzeitjob. Der stündliche Mindestlohn liegt bei 2,97€. Das monatliche Durchschnitts-Bruttoeinkommen liegt bei 1089€ (Deutschland: 3380€). Dabei unterscheiden sich die Lebenserhaltungskosten nicht groß von deutschen.
Obdachlose überleben den kalten Winter oft nicht. Und bei europaweiten und globalen Statistiken zum Alkoholkonsum liegt Estland regelmäßig unter den Top 5.

Estland ist das Silicon Valley Europas. In den Innenstädten Tallinns und Tartus merkt man kaum, dass man in Osteuropa ist. Aber wenn Riho mich mal wieder „das reiche Mädchen aus Westeuropa“ nennt, steckt auch ein bisschen Wahrheit drin.

Interessante Links:

Quellen: 
daad.de
wikipedia.org
ec.europa.eu
und natürlich ein gewisser bekannter Journalist vom estischen Rundfunk ;-) (Eesti Rahvusringhääling)

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