Als ausländische Studentin auf zwei Kontinenten
„Tere hommikust! Vabandust, ma otsin Hertta Pirkkalainen!“, sage ich
höflich. (Entschuldigung, ich suche nach Hertta). Dadurch bin ich natürlich
sofort mit einem der Probleme konfrontiert, das man hat, wenn man eine neue
Sprache lernt: Die Frage kann man schon stellen, die Antwort versteht man
nicht. Zusätzliche Lektion: wenn man noch dazu ohne auffälligen Akzent spricht,
bekommt dein Gegenüber nicht mit, dass du ihn nicht verstehen kannst.
Also gebe ich zu, dass
ich Ausländerin bin, und zwar die Studentin, die die nächsten drei Wochen hier
verbringen wird. Die Tierärzte werfen einen Blick auf die Tafel hinter der Tür
des Büros. Ja, da steht mein Name, ich darf hier sein.
Das zweite Mal, auf einem
anderen Kontinent, wieder als ausländische Praktikantin in einer Großtierklinik
spreche ich nichts außer „Hallo“ und „Danke“ – und obwohl ich am Ende zwar selbstständig
Essen bestellen kann, komme ich aufgrund der phonetischen Natur der
thailändischen Sprache nie über in paar Wörter hinaus.
In den nächsten vier
Monaten bekomme ich nun die verschiedenen Vorgehensweisen bei der Klauenpflege,
Zwangsmaßnahmen, Arbeitssicherheit und improvisierte Behandlungsmethoden meiner
beiden Gastländer kennen. Und noch eine Menge mehr natürlich.
Das erste, woran ich mich
gewöhnen muss, sind die Namen. Nachdem ich endlich an dem Punkt angekommen bin,
wo neben Christian, Max, Birgit und Pia auch Margit, Reet, Alar und Tauri
normal klingen, muss ich jetzt herausfinden, ob Pui, Fon, Parn und Nott
männliche oder weibliche Namen sind – und sie mir merken.
In jedem neuen Land muss
man sein Gehirn erstmal an den Klang der Namen gewöhnen, ein Gefühl für sie
entwickeln.
Dann kommen die Punkte,
mit denen sich Praktikanten aller Berufe auseinandersetzen müssen: die
Hierarchie am Arbeitsplatz, wer am liebsten mit den Studenten spricht und
Vorgänge erklärt (und am besten Englisch spricht), wo man was findet, wo man am
wenigsten im Weg steht, und die Arbeitsmoral.
Letzteres eröffnet mir
eine neue Perspektive auf die deutsche Arbeitsmoral: wenn es um acht losgeht,
muss man um zehn vor da sein, um sich umzuziehen und einen Überblick zu
verschaffen. Dann arbeitet man ab, was anfällt und erst danach gibt es eine
Pause – auch wenn das bedeutet, dass es manchmal erst um drei Mittagessen gibt,
oder sogar gar keins.
Im Dezember bin ich an
der Eesti Maaülikool, Tartu, Estland. Es ist acht Uhr fünfundzwanzig. Mir wurde
gesagt, ich solle um halb neun da sein, aber ich trage schon die
Arbeitsklamotten. Einer der Tierärzte kommt vorbei, Kaffeetasse in der Hand.
Vor neun fahren wir nicht los zum ersten Hof, sagt er. Meistens wird es eher
halb zehn werden.
Im Januar sitze ich am
anderen Ende der Welt, auf einem ähnlichen Stuhl vor einem ähnlichen Büro mit
einer ähnlichen Tafel, auf der mein Name steht (allerdings falsch
buchstabiert). Wieder blicke ich auf einen Pferde-Untersuchungsstand vor mir.
Mahanakorn University of Technology, Bangkok, Thailand. Und obwohl wir meistens
gegen neun einmal einen Blick auf die Patienten werfen, gibt es erstmal
Frühstück. Und jedem steht eine Stunde Mittagspause zu. Um zwölf. Wer nichts
isst, kann auch bei der Arbeit nicht sein Bestes geben, wird mir gesagt. Macht
Sinn.
Hier kommen wir direkt in
den Arbeitsklamotten an, in denen gehen wir auch mittagessen und oft noch
abends in ein Lokal.
Das Hygienekonzept jeder
Klinik, sagt mein Freund immer, ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck.
Überall heißt es erstmal: Desinfektionsmittel finden. Wo, wann, welches? Wann
werden die Hände gewaschen und wann desinfiziert? Trage ich die Handschuhe, um
mich zu schützen oder den Patienten? Wann und wo werden die Schuhe gewaschen?
Welche Tupfer werden wofür verwendet?
Wenn ich in Deutschland
gefragt werde: „Hast du das schon mal gemacht?“ bedeutet das: Wenn du es schon
kannst, darfst du es machen, aber wenn nicht, mache ich es selbst.
Einer meiner Betreuer an
der MUT drückt das so aus: „Wenn du es zum ersten Mal machst, wenn du schon
einen Job hast und die ganze Verantwortung trägst, dann lernst du es wirklich.“
Mir gefällt, was es in
Estland und Thailand bedeutet:
„Hast du das schon mal
gemacht?“
„Nein, nur zugeguckt.“
„Na dann, pass auf, wenn
du hier so… ja, genau, und jetzt allein!“
Ich mache Sachen, bei
denen viel schief gehen kann, das erste Mal ganz gerne, wenn jemand hinter mir
steht, der größeren Schaden verhindern könnte.
Auf diese Art lerne ich
an meinem ersten Tag in Estland, eine Epiduralanästhesie bei der Kuh zu machen
und den Schwanz mit der offenen Fraktur zu amputieren. Die Tierärztinnen Margit
und Els (ja, wir sind per Du) erklären, wie ich es machen soll, und ich tue es.
Und nachdem ich zwei
Kaiserschnitte in Thailand gesehen habe, darf ich beim dritten direkt
assistieren.
Viele Dinge unterscheiden
sich sowohl in Estland als auch in Thailand von dem was ich aus Deutschland
gewohnt bin. Aber Estland ist immer noch Europa, und die Kühe sehen sich
ziemlich ähnlich.
In Thailand ist
tatsächlich alles anders. Die Währung, der Umgang der Leute miteinander (keine
Umarmungen, aber sehr viel Händchenhalten, man teilt alles Essen, trinkt durch
den gleichen Strohhalm wie die Kollegen, fährt zu dritt auf einem Roller,…),
die Kühe, die Schuhe (Keine Stahlkappengummistiefel. Sneakers an guten Tagen.
Meistens Sandalen.), das Frühstück.
Und natürlich die
Tatsache, dass wir mehrere Stunden am Tag damit verbringen, Tupfer zu falten.
Das erste, was ich in
Thailand lerne, ist Vertrauen.
Die Tierärzte vertrauen
den Studenten: Sie schaffen das, die Pferde zu versorgen und festzuhalten, Blut
abzunehmen, Verbände zu wechseln, Rektaluntersuchungen durchzuführen und bei
OPs zu assistieren. Deshalb trauen wir es uns dann auch selbst zu. Jemand ist
da, der sofort übernehmen könnte, wenn etwas schief liefe. Aber wir können es.
Aber ich kann auch darauf
vertrauen, dass alles immer irgendwie gut ausgeht. Wenn man irgendwo im
Nirgendwo gestrandet ist, wird einen irgendjemand abholen und nach Hause
bringen. Gelegenheiten ergeben sich. Und wenn es so aussieht, als sei alles
verloren, kann man sich auf das Land des Lächelns verlassen – einfach abwarten
und alles wird wieder gut. Glaubt mir. Es mögen göttliche Kräfte sein oder
unglaublich nette Menschen, aber irgendjemand versetzt gerade Berge für dich.
Dann lerne ich, zu
akzeptieren.
Wir haben nicht viele
Patienten. Weder in Estland, wo es an der Jahreszeit liegen mag, noch in
Thailand. Zehn Tierärzte, zehn Studenten, zwei Patienten am Tag. Und wir sitzen
hier. Entspannen uns. Quatschen. Falten Tupfer. Mit meinen deutschen
Gewohnheiten ist das nicht leicht. Können wir den Verbandswechsel nicht auch
schon gleich machen, statt damit bis zum Nachmittag zu warten? Naja. Was würden
wir dann am Nachmittag tun? Einfach hinnehmen. Akzeptiere die Dinge, wie sie
sind. Akzeptiere, dass du immer den ganzen Tag schwitzen wirst, auch wenn du
dich nicht bewegst. Akzeptiere, dass du mit den Studenten den ganzen Tag
herumsitzt und ihr auf eure Handys starrt (oder Tupfer faltet).
Aber vor allem:
akzeptiere die Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Herzensgüte der Thai. Ich
war es nicht gewöhnt, gefragt zu werden, ob ich schon gefrühstückt hatte. Ich
war nicht daran gewöhnt, dass mir immer jemand Essen organisiert. Darauf
besteht, mich nach der Arbeit nach Hause zu fahren. Oder dass mich jemand
freiwillig bis an die kambodschanische Grenze fährt, als mein Visum ausläuft
(lange Geschichte…).
Manchmal war ich mir
nicht sicher, was ich davon halten sollte. Oft hat es mich überfordert.
Ich habe gelernt, es zu
akzeptieren. So sind sie, die Thai.
Und ich bin unglaublich
dankbar.
Nach drei Wochen im
kalten, verschneiten Estland mit seinen Highland cattle und anderen dicht
behaarten Kühen liegen jetzt drei Monate im sonnigen, 34 Grad warmen Thailand
hinter mir, mit Wasserbüffeln und Buckelrindern und der feinstaubbelasteten
Luft. Nach vier Wochen in der Großtierklinik, die neben landwirtschaftlichen
Nutztieren auch Pferde und ein paar Exoten wie afrikanische Weißbauchigel
behandelt, geht es im Khao Kheow Open Zoo weiter, wo meine Hauptaufgaben im
Vorbereiten der Medikamente fürs Blasrohr und im Überwachen von Narkosen
bestehen. Aus naheliegenden Gründen wird fast jedes Zootier in Narkose gelegt,
um es zu untersuchen und zu behandeln. Ich werde sehr gut im Multitasking lerne,
schnell zu sein, und schließlich die Zahlen auf Thai, da mir immer wieder
zugerufen wird: „Pen ha! Marbo cee!“ (Penicillin fünf Milliliter, Marbofloxacin
vier Milliliter).
Geduld übe ich auch.
Ich habe keine Ahnung,
was gerade um mich herum passiert, wie der Plan aussieht und worüber die
Tierärzte gerade diskutieren. Aber ich habe alle Medikamente, die wir
vielleicht brauchen könnten, eingepackt und auch sonst alles dabei. Was auch
immer unser nächster Patient sein wird – ich bin vorbereitet und kann einfach
abwarten. Geduldig muss ich auch sein, wenn jemand mir erklärt, worum es gerade
geht, und nach den richtigen Wörtern auf Englisch sucht. Wenn wir morgens nicht
loskommen, während ich mit meiner deutschen Pünktlichkeit schon längst fertig
in der Tür stehe. Und ich muss es sein, wenn wir darauf warten, dass das Tier
endlich in einer Position steht, dass man es mit dem Blasrohr abschießen kann.
Dann warten wir wieder. Bis das Sedativum wirkt. Rennen hin. Behandeln. Warten,
dass es besser wird.
Fünf Wochen und ein
Visums-Verlängerungs-Abenteuer später komme ich bei meiner letzten Station
dieses Praktikums an: dem
Premier Pet Hospital. Es kommen ein paar Katzen und ich kriege einen Hund zu
sehen, aber der Fokus liegt eindeutig auf Exoten: Kaninchen, Hamster,
Präriehunde, Totenkopfäffchen, Pinseläffchen, Reptilien, Papageien.
Ich bin in einer Welt
angekommen, in der ich mich nicht nur wohlfühle wie im Zoo und zwischen
Rindern, sondern auch schon ein bisschen Erfahrung habe. Aber die Tierärzte
hier wissen nicht, was ich schon kann und wie viel ich weiß, und oft ist die
Herangehensweise eine andere als ich es gewohnt bin. Außerdem kann ich,
logischerweise, keine Gespräche mit den Besitzern führen.
Also stehe ich im
Hintergrund und gucke zu. Oft können meine Fragen nicht komplett beantwortet
werden. Die Angestellten hier (und der Chef) sind, wie alle Thai, die
freundlichsten Menschen überhaupt und ich liebe das Leben in der Tierklinik –
aber mein Erfahrungsgewinn ist begrenzt.
Als
Austauschstudent ist man mit großer Wahrscheinlichkeit immer die Person, die
unsichtbar im Eck steht und nur zuguckt, aber nichts tun darf.
Außer, man fragt.
Fragen, fragen,
fragen. Diese Lektion habe ich gelernt.
Eine Auslandserfahrung
wird nie so sein, wie du sie dir vorgestellt hast. Nie wirst du mehr über dich
selbst und die Welt lernen, als wenn du deine Komfortzone verlässt und dich in
unbekannte Gefilde mit anderer Sprache, Kultur und Philosophie aufmachst. Wenn
du auch nur eine Sekunde daran denkst – worauf wartest du noch?
Ich war nicht auf einem
„Selbstfindungstrip“ nach Thailand gekommen, sondern um Erfahrungen mit Tieren
zu sammeln, die in Deutschland als Exoten gelten und hier einfach Haustiere
sind. Ich war gekommen, um meinen Traum, Thailand zu besuchen, endlich zu
erfüllen und die Kultur und Natur kennen zu lernen.
Doch auf gewisse Weise
haben sich manche Dinge verändert. Thailand hat mich verändert.
Ich hatte viel Zeit, um
mich mit anderen Dingen als dem Tiermedizinstudium zu beschäftigen und habe
viel mitgenommen.
Ich hatte eine
unglaublich tolle Zeit in meinem Haus im Zoo, umgeben von Dschungel, mit Affen
auf dem Dach, Tigern als Nachbarn und damit, mich in den Klinikalltag
einzufinden.
Nach einer Weile ging es
mir in der Stadt immer schlechter, ich hatte genug vom Verkehrslärm und Smog,
von all dem Grau, den Klimaanlagen und Neonröhren.
Ich sollte drei
Monatsmieten bezahlen für ein Zimmer im Wohnheim, in dem ich vier Wochen gelebt
habe und habe das Gefühl, über’s Ohr gehauen worden zu sein.
Aber ich fühlte mich auch
so umsorgt wie nie zuvor.
Und ich erinnere mich wieder,
warum ich einen Beruf gewählt habe, bei dem ich den Großteil des Tages draußen
verbringen kann.
Solltest du auch nur eine
Sekunde darüber nachdenken, ein Praktikum im Ausland zu machen: tu es. Du wirst
so viel lernen.
Aber stell dich darauf
ein, immer aus der Reihe zu fallen. Du wirst diejenige sein, die niemand
richtig einordnen kann. Niemand ist sich sicher, wie viel du weißt, kannst,
verstehst. Du wirst diejenige sein, die keine Ahnung hat, was gerade passiert.
The odd one out.
Würde ich es wieder tun?
Estland, auf jeden Fall. Als ich von dort zurückkam, hatte ich Selbstvertrauen.
Hätte mich ein Bauer gefragt, was er mit seinen lahmen Kühen machen soll – ich
hätte es gekonnt.
Thailand? Alles in
allem…wahrscheinlich nicht. Versteh mich nicht falsch. Ich werde Thailand für
immer für die Erfahrungen und Erlebnisse dankbar sein.
Aber habe ich etwas über
Tiermedizin gelernt? Nicht so richtig.
Habe ich andere Dinge
gelernt?
Ja.
Dass man, wenn man
beruflich weiterkommen will, das nicht in einem Land versuchen sollte, dessen
Sprache man nicht versteht, ist nur das Ende einer langen Liste.
Und diese Fähigkeiten
werden mich zu einer besseren Tierärztin machen – und einem besseren Menschen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen