Geschichte
Doch als wir den Turm betreten, wird uns klar, dass er ein Museum beinhaltet – das „Zeitreise-Museum“. Die Frau, die uns die Tickets verkauft hat, lässt uns eine Tür mit altmodischem Flaschenzug-Mechanismus aufkurbeln und wir betreten ein dunkles Amphitheater, wo wir einen Film über die frühe Geschichte Estlands in deutscher Sprache gezeigt bekommen. Auch Mythen werden darin aufgegriffen: Das Land erhob sich aus dem Meer, Bäume wurden gepflanzt, um es für Menschen attraktiv zu machen, Hügel erhoben, um sie vor dem Wind zu schützen, und Steine verteilt zur Dekoration. Wir verlassen die Zeit der Wikinger (die sehr viel später christianisiert wurden als in allen umliegenden Ländern) und stehen plötzlich zwischen Kabeln und Drähten vor einem Aufzug. Das soll unsere Zeitmaschine sein. Stockwerk für Stockwerk arbeiten wir uns weiter durch die Geschichte. Hexenverbrennung, Könige und Zaren, Versklavung der Esten durch die Baltendeutschen bis zum livländischen Krieg, Unabhängigkeit, Besetzung durch die Russen. Jedes Stockwerk ist ein bisschen anders. Als es um die Deportation geht, betreten wir einen der Viehwägen, in denen die Esten tag- und wochenlang eingepfercht waren, ohne Nahrung und Wasser. Später blicken wir in ein Schlafzimmer, in dem offenbar gerade der Ehemann betrogen worden ist. Im achten Stock erlangt Estland seine Unabhängigkeit wieder (1991 von der Sowjetunion). Die Menschen in den baltischen Ländern bildeten damals eine lange Kette von Tallinn über Riga nach Vilnius. Und ganz oben kann man dann endlich aus dem Turm rausgucken. Ein Roboter steht zwischen zwei Fenstern, Bilder von der Restauration des Turms hängen an der Wand, und die Zeitmaschine aus dem Film „The time machine“ (ja genau, das Modell aus „Big Bang Theory) steht herum. Es ist ein beeindruckendes Museum, es lässt den Besucher Geschichte erleben, und wir sind etwas geschockt, weil wir ja einfach nur einen guten Blick über eine weitere hübsche estnische Stadt erwartet hatten.
Szenenwechsel.
Das Setomaa liegt auf der anderen Seite Tartus, also über zwei Stunden entfernt, aber ich möchte unbedingt noch etwas über die Seto lernen, also fahren wir von Paide aus wieder in den Süden. Das Museum, das mir empfohlen wurde, hat wieder geschlossen, nicht wegen des Wochentags, sondern weil es schon nach 16 Uhr ist, aber immerhin können wir einen Blick in eine Galerie werfen. Fotos von traditionellem Schmuck hängt an den Wänden, Gemälde, die die Kultur darstellen. Die Schuhe neben dem Eingang und die Möbel in dem großen Raum erwecken den Eindruck, wir befänden uns in jemandes Wohnzimmer. Aber es ist niemand da. Wir legen das Eintrittsgeld auf einen Tisch und tragen uns ins Gästebuch ein. Auf der anderen Straßenseite gibt es ein Café, „süük ni jook“ – Essen und Trinken im Seto-Dialekt (söök ja jook). Wieder betreten wir jemandes Wohnzimmer, sind die einzigen Gäste. Die Frau, die uns hereinwinkt, läuft barfuß herum und ruft ihre Kollegin (in ganz normalem, mir verständlichen Estnisch), damit diese unsere Bestellung aufnehmen kann. Da sitzen wir also, unter dem Schrein in der Ecke (ein bisschen wie in bayrischen Lokalen, ihr wisst schon, das Jesuskreuz da oben, Blumen drum herum…), trinken einen ganzen Liter Tee und am Nebentisch sitzt eine weitere alte Dame und putzt und sortiert frisch gesammelte Pilze.
Szenenwechsel.
Zurück in Tartu bekomme ich eine kleine Geschichtsstunde von Maria. Sie wohnt auch mehr oder weniger in der WG und studiert Geschichte. Die Baltendeutschen und der Livländische Krieg, von denen ich in meinem Geschichtsunterricht nie ein Wort gehört habe, scheinen ihre Spezialgebiete zu sein, aber sie sagt, dass eigentlich alle jungen Esten gut in estnischer Geschichte sind. Sie erklärt mir, wie deutsche Händler und Ritter im 13. Jahrhundert mit den Kreuzzügen ins Baltikum kamen und blieben, zu Adligen wurden, denen die Esten unterstanden und erst 1939 wieder nach Deutschland gerufen wurden.
Es regnet jetzt viel. Die finnischen Erstis wurden in ihren weißen Kitteln durch die Stadt gejagt wie letztes Jahr. Im Café Crepp gibt es auch vegane Gerichte, das wusste ich nicht. Samstags ist immer veganes Brunch im Möku. Und heute Abend Vikerruum, die beste Party in Tartu. Viele sagen, Tartu hätte nicht viel zu bieten. Als Tourist hätte man nach zwei Tagen alles gesehen.
Ich schließe mich eher Jako an: „You can never really leave this place.“ Es ist verdammt schwer, sich von Tartu zu verabschieden.
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