Noch weiter nach Norden (Go West where the skies are blue)


First I was a bit sick, then there was Vikerruum. Als ich nach kaum drei Stunden Schlaf schon wieder aufstehe, ist meine Stimme so gut wie weg. Aber hey, das war ein würdiger letzter Abend in Tartu! Außerdem zeigt Madis uns im Anschluss noch einen Teil der Stadtkultur, der mir noch fehlte: das berühmt-berüchtigte Zavood. Eine üble Spelunke, hier gibt es die betrunkensten Leute Tartus zu sehen; und freitags hat die Bar länger als alle anderen auf. Also geht jeder hin, obwohl es furchtbar ist. Und dadurch ist es irgendwie schon wieder cool.



Je näher wir dem Peipsi-See kommen, desto nebliger wird es. Wir steigen aus, es ist vollkommen still. Hin und wieder plätschert das Wasser in winzigen Wellen ans Ufer. Wir blicken jetzt vom Nordende auf den fünftgrößten See Europas, 143km zieht er sich nach Süden und bildet den größten Teil der estnisch-russischen Grenze. Im Sommer wird hier gebadet, das ist offensichtlich, aber jetzt ist einfach niemand zu sehen. Nicht einmal ein Vogel.



Als wir das nächste Mal anhalten, scheint die Sonne und wir sind am Meer. Käsmu ist ein kleiner Ort auf einer Landzunge im Lahemaa Nationalpark und wirkt mit den vielen neuen Häusern in traditioneller Architektur wie ein Feriendorf. Auch hier ist es anfangs völlig still. Irgendwann beginnt ein Hund zu bellen und kurz darauf zeigt sich, dass in jedem Garten einer wohnt.
Als wir dem Ende des Dorfes (und damit der Landzunge) näher kommen, begegnen wir auch ein paar Menschen. Und Vögeln. Am Vana Jüri Ots (Ende vom Alten Jüri, aber wohl im Sinne von „das Ende des Landes, wo der alte Jüri wohnt“) wohnen ein paar Schwäne. Ein großer Haufen Steine liegt am Ufer – Seefahrer legten hier früher immer einen Stein mit ihrem Namen und Jahreszahl hin und auch heute soll es Glück bringen, wenn man einen Stein dazulegt. Aber bitte einen, den man von zu Hause mitgebracht hat! Im Wasser liegen riesige Findlinge verstreut, sodass es wirkt, als könnte man zu Fuß bis zu der kleinen vorgelagerten Insel gehen. Die Wassertemperatur hält mich allerdings davon ab, es auszuprobieren.





Unser dritter Stopp ist der Jägala Wasserfall, der höchste Wasserfall Estlands. Besonders hoch ist er nicht (wie man sich vielleicht denken kann), aber wunderschön. Man kann sowohl unten am Ufer stehen, als auch oben auf einer riesigen Fläche bis zum flachen Wasser laufen. Die Sonne scheint und alles ist voll mit lettischen Touristen. Der Parkplatz ist voller lettischer Autos.
Abends geben wir den Leihwagen zurück, indem wir ihn auf dem Flughafenparkplatz abstellen und Schlüssel und Fahrzeugpapiere an der Info einer nicht allzu informierten Frau in die Hand drücken. Mach’s gut Erwin, danke für deine treuen Dienste!



Wir kommen bei Madis‘ Bruder Tauri unter, der in Tallinn wohnt und arbeitet. „Es riecht ein bisschen nach Lagerfeuer, wegen des Kachelofens“, sagt er entschuldigend, „aber es ist nicht gefährlich.“ Er führt uns kurz herum und besteht, wie schon sein Bruder darauf, selbst auf dem Sofa zu schlafen und uns das Schlafzimmer zu überlassen. Dann fällt ihm noch ein: „I don’t have a freezer, I don’t believe in freezers, but I’m also too lazy to buy one.“ Ein Blick in die Küche verrät, dass er damit auch Kühlschrank meint. Dann drückt er uns Haus- und Wohnungsschlüssel in die Hand und verschwindet wieder. Was er nicht gesagt hat, aber offensichtlich ist: Eine Dusche hat er auch nicht. Am liebsten würde ich jetzt auch noch über die Geschichten schreiben, die Tauri uns auf dem Weg von der Bushaltestelle bis zu seiner Wohnung erzählt hat, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen.

In Tallinn schränkt meine Erkältung uns am nächsten Tag etwas ein, aber die Altstadt haben wir ja auch schon im letzten Oktober besichtigt. Wir gucken uns die Oleviste Kirche an, die praktischerweise in unmittelbarer Nähe eines veganen Cafés steht, und die Linnahall. Dieses riesige Gebäude aus Sowjetzeiten ist eigentlich potthässlich. Riesengroß, grau, Sowjet eben. Aber weil so wenig darauf los ist, man einen fantastischen Blick über das Meer hat und es ja doch irgendwie beeindruckend ist, ist es einer meiner Lieblingsorte in Tallinn (zusammen mit Telliskivi, direkt bei Tauri um’s Eck). Aus den Nachrichten der letzten Tage weiß ich, dass der Politiker Märt Sultsi der Zentrumspartei (Keskerakond) mit Schülern ein Kunstprojekt geschaffen hat: eine gesamte Seite der Linnahall ist jetzt bunt bemalt. Eine tolle Abwechslung zu den hässlichen Schmierereien (gute Graffiti gab es hier irgendwie nie) und jetzt im Wahlkampf natürlich eine super Idee. Offenbar steht das Gebäude aber unter Denkmalschutz, deshalb muss das Bild demnächst wieder abgewaschen werden. Noch mehr Medienpräsenz für Sults.



Unsere Rundreise durch Estland ist vorbei. Wir schultern die Rucksäcke und verlassen die Hauptstadt mit der Fähre Richtung nächste Hauptstadt. Skandinavien, wir kommen!

Kommentare

Beliebte Posts

Zwischen Palmen und Plastikmüll

Essentials for your Estonian accent - a not-so scientific approach to linguistics

The Second Year, part I: Conference